Full text: Von Bismarck zum Weltkriege

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Absichten Rußlands 
während der Balkankrise 1912/13 war die panslavistische Strö 
mung- in Rußland so stark angeschwollen, daß auch Pourtales 
meinte, wenn Österreich in Serbien einmarschiere, werde der Zar 
wohl losschlagen müssen. „Die Frage, ob ein solcher Krieg wirklich 
dem russischen Interesse dienen würde, wird in diesem Falle ebenso 
wenig erwogen werden, wie die Rücksicht auf die Gefahren, denen 
Rußland bei einem Kriege im Innern des Reiches zweifellos entgegen 
gehen würde 20 ).“ Im Frühling 1914 bezweifelte er zwar, daß Rußland 
planmäßig auf einen Krieg hinarbeite, da die Persönlichkeiten zur 
Leitung einer großen, einheitlichen Aktion fehlten; aber er gestand zu, 
daß der schwache Zar jeden Augenblick von den Panslavisten mit 
gerissen werden könne. Auch ein damals in einem russischen offiziösen 
Blatte erscheinender Artikel — Rußland sei kriegsbereit, Frankreich 
möge es auch sein —, machte ihn in dieser Ansicht nicht irre. Aber 
der Kaiser war anderer Meinung. Er fand, daß Pourtales Bericht 
sich selbst widerspreche. „Ich als Militär“, schrieb er, „trage nach 
allen meinen Nachrichten nicht den geringsten Zweifel, daß Rußland 
den Krieg systematisch gegen uns vorbereitet, und danach führe ich 
meine Politik.“ Zu einer Bemerkung des Botschafters, daß niemand 
drei bis vier Jahre in die Zukunft schauen könne, setzte er die charak 
teristische Note: „Die Gabe kommt vor! Bei Souveränen öfter, bei 
Staatsmännern selten, bei Diplomaten fast nie 21 )!“ Er glaubte sie 
offenbar zu besitzen; hätte 6r doch nur ein wenig davon gehabt! 
Der Reichskanzler war zwar ebenfalls besorgt über den Ton der rus 
sischen Presse und meinte: „daß Rußland noch am ehesten von allen 
europäischen Großmächten geneigt sein wird, das Risiko eines kriege 
rischen Abenteuers zu tragen.“ Aber an unmittelbare Kriegsabsichten 
glaubte er noch im Juni 1914 nicht, wenn er auch überzeugt war, daß ein 
beliebiger, vielleicht ganz untergeordneter Interessengegensatz zwischen 
Rußland und Österreich-Ungarn die Kriegsfackel entzünden könne 22 ). 
Der österreichische Thronfolger zweifelte ebenfalls nicht an Rußlands 
bösen Absichten, meinte aber, es sei nicht zu fürchten; „die inneren 
Schwierigkeiten seien zu groß, um diesem Lande eine aggressive 
Politik zu gestatten 23 )“. 
Die Wahrheit dürfte, soweit man auf Grund des heute vorliegenden 
Materials urteilen kann, die sein, daß die regierenden Kreise Rußlands 
nicht auf jeden Fall Krieg führen wollten und daher keinen bestimmten 
Zeitpunkt dafür ins Auge gefaßt hatten, daß sie aber den Krieg inner 
halb einer nicht allzu langen Zeitspanne für unvermeidlich hielten. Maß 
gebend für diese Überzeugung war nicht so sehr der Deutschenhaß 
20 ) Pourtales, 6. Februar 1913. 
21 ) Pourtales an Jagow, 6., 11., 16. März 1914. Bemerkungen des 
Kaisers zum Bericht vom 11. März. 
22 ) Bethmann an Lichnowsky, 16. Juni. 
23 ) Aufzeichnung Treutiers über die Zusammenkunft in Konopischt, 15. Juni.
	        
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