Full text: Von Bismarck zum Weltkriege

Deutsche Politik- 
407 
weiter Volkskreise, auch nicht der Glaube, daß Deutschland den Russen 
den Weg nach Konstantinopel versperren wolle — was ja übrigens durch 
aus nicht der Fall war — sondern die Erwartung, daß) der österreichische 
Nationalitätenstaat beim Tode des alten Kaisers Franz Josef ausein 
anderfallen werde. Diese Meinung teilte man, wie wir wissen, seit 
langem in London, wahrscheinlich auch in Paris und Rom; ja sogar 
in Deutschland war sie weit verbreitet. Man glaubte also, der Tod 
dieses bereits 84 jährigen Herrschers werde das Signal zur Neu 
gestaltung der staatlichen Verhältnisse des Donaubeckens und der 
nordwestlichen Teile der Balkanhalbinsel werden. Auf diesen Fall 
bezogen sich, wie ich glaube, die den Serben so oft gegebenen Ver 
sprechungen, daß sie auf Kosten der habsburgischen Monarchie „viel 
Land“ erhalten sollten. Auf diesen Zeitpunkt wird man auch die 
Rumänen hingewiesen haben, die Rußland bereits im Frühjahr 1914 
trotz des Widerstrebens König Karls zum großen Teil gewonnen hatte. 
Es kann nicht zweifelhaft sein, daß Rußlands Zukunftsprogramm die 
Aufteilung der österreich-ungarischen Monarchie in sich 1 enthielt; wohl 
aber kann man verschiedener Meinung darüber sein, ob Rußland deren 
gewaltsame Zerstörung durch einen absichtlich herbeigeführten großen 
Krieg erstrebte, oder ihren Zerfall beim Regierungswechsel erwartete, 
und ihn, sobald jener Zeitpunkt gekommen sei, zu befördern und aus 
zunützen, nicht aber künstlich zu beschleunigen gewillt war. Ich 
glaube das letztere. Daher waren auch die friedlichen Versicherungen 
Deutschland gegenüber wahrscheinlich nicht ganz unehrlich. Man hielt 
die Möglichkeit nicht für ausgeschlossen, daß man sich mit Berlin beim 
Auseinanderfall des Donaustaates gütlich werde verständigen können, 
sobald das deutsch-österreichische Bündnis durch die Macht der Tat 
sachen beseitigt sei. Verhielt sich dies so, dann kam es für Deutsch 
land darauf an, vorzeitige Zusammenstöße zu vermeiden, bis sich ge 
zeigt haben würde, wie sich Österreichs Schicksal nach dem Tode 
des alten Kaisers gestalten werde. 
Jedenfalls betrachtete man in Berlin Rußlands Absichten mit tiefem 
Mißtrauen, das beim Kaiser selbst noch größer war als bei seinen 
Diplomaten. Man wußte genau, daß jeder unvorhergesehene Zwischen 
fall am Balkan die 1909 und 1912/13 glücklich beschworene Kriegs 
gefahr erneuern könne. Auch zweifelte man nicht daran, daß Frank 
reich den Russen in jedem Falle helfen werde. Eine gewisse Beruhi 
gung fand man in der Überzeugung, daß Rußlands eigene Kriegsvorbe 
reitungen noch nicht abgeschlossen seien. 
Dagegen setzte der Reichskanzler große Hoffnungen auf die neu 
befestigten Beziehungen zu England. Ob es wegen der Balkanfragen 
zu einem allgemeinen Kriege kommen werde, meinte er, hänge von 
Deutschland und England ab. „Treten wir beide alsdann geschlossen 
als Garanten des europäischen Friedens auf, woran uns, sofern wir 
von vornherein dieses Ziel nach einem gemeinsamen Plane verfolgen,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.