Motive der deutschen Politik
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und Frankreich auf jeden Fall, England vielleicht hineingezogen werden
würden. Man hielt jedoch Rußland nicht für kriegsbereit, glaubte
ferner nicht, daß der Zar als Vertreter des dynastischen Prinzips den
Anstiftern des Herrschermordes ernstlich die Stange halten werde,
und rechnete endlich wohl auf Englands zurückhaltenden Einfluß in
Petersburg, der sich ja in den früheren Balkankrisen als wirksam er
wiesen hatte. Aber wie hoch man diese Momente auch anschlagen
mochte, die Gefahr eines Weltkrieges war ohne Zweifel in dem Augen
blick gegeben, wo Serbien in einer Weise angefaßt wurde, die Ruß
land im Interesse der Erhaltung seines Prestiges zum Eingreifen drängte
und geeignet war, in den Augen der übrigen Mächte, namentlich
Englands, Österreich als den angreifenden Teil erscheinen zu lassen.
Man war also entschlossen, Österreich auf jede Gefahr hin zu
unterstützen. Das Motiv dafür lag nicht nur in dem Gefühl der
Bundestreue und der Solidarität aller Monarchien, obwohl beide Ge
sichtspunkte beim Kaiser stark mitsprachen, sondern vor allen Dingen
in der Erwägung, daß Österreich die Beseitigung der großserbischen
Gefahr für eine Lebensfrage halte, und es uns niemals verzeihen werde,
wenn wir es in dieser Sache im Stich ließen, es zum Zurückweichen
oder auch nur zu einer nach seiner Meinung verderblichen Mäßigung
zwängen. Es war die Gefahr, den letzten Bundesgenossen auch noch
zu verlieren, die ja schon seit der Bildung der Entente auf unseren
Staatsmännern lastete und eine weitgehende Veränderung in unserm
Verhältnis zu Österreich zur Folge gehabt hatte. Dazu kam das Ge
fühl, daß die große Abrechnung, auf die Rußlands ganze Politik sicht
bar eingestellt war, und die Frankreich herbeiwünschte, doch un
vermeidlich sei, und daß es äußerst zweifelhaft erscheinen müsse, ob
Österreich auf jede Gefahr hin zu uns halten werde, wenn der Kampf
über eine die österreichischen Interessen nicht direkt berührende Frage
ausbreche. Man wünschte, daß Österreich schnell und energisch zu
greifen möge, damit eine vollendete Tatsache geschaffen werde, bevor
andere Mächte eingreifen könnten. Über den Inhalt des österreichischen
Ultimatums war man in den Hauptpunkten unterrichtet, jedoch nicht
über die Form und die Einzelheiten, auf die doch sehr viel ankam,
und ebensowenig über die Eroberungs- und Teilungspläne, die man
in Wien verfolgte. Man war weit entfernt von dem Gedanken eines
gewollten Präventivkrieges; will man die in Berlin vorherrschende
Stimmung bezeichnen, so war es eher eine Art Ergebung in ein Schick
sal, an dessen Abwendung man verzweifelte. Wenn der Kampf doch
nicht zu vermeiden sei, glaubte man es darauf ankommen lassen zu
sollen, ob die Feinde ihn schon jetzt beginnen wollten, bevor ihre
eigenen Vorbereitungen ganz beendigt seien.
Wäre es aber nicht die selbstverständliche Pflicht unserer Politik
gewesen, wenn sie dem Verbündeten in einer Lage, die zum Welt
krieg führen konnte, unbedingte Hilfe versprach, wenigstens zu for-