422
Veränderte Haltung Deutschlands
klärung Serbiens die Unterhandlungen abgebrochen und mobilisiert
habe. Auch in den leitenden Kreisen Berlins teilte man diese Empfin
dung. Hier traf die serbische Antwort am 27. Juli nachmittags ein.
Sie wurde am nächsten Morgen dem Kaiser vorgelegt, der eben
von seiner Nordlandreise zurückgekehrt war. Er war erstaunt über
das Entgegenkommen Serbiens und bemerkte dazu: „Eine brillante
Leistung für eine Frist von bloß 48 Stunden! Das ist mehr als man
erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien; aber damit
fällt jeder Kriegsgrund fort und Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben
sollen! Daraufhin hätte ich niemals Mobilmachung befohlen!“
Unter diesem Eindruck der serbischen Antwort und des völlig
entsprechenden Echos, das aus der Presse aller Länder und aus den
Kabinetten der fremden Mächte nach Berlin drang, wurde man hier
sehr bedenklich. Man befürchtete, daß jetzt Österreich als der ohne
Orund angreifende Teil erscheinen, und daß daher, falls es zum all
gemeinen Kriege kommen sollte, das Odium auf Österreich und seine
Verbündeten fallen werde. Man war sich klar darüber, daß dies sowohl
um der Stimmung im eigenen Lande willen, als auch aus Rücksicht
auf die unbeteiligten Staaten und Völker durchaus vermieden werden
müsse. Auch hatte man in den letzten Tagen bereits deutlich merken
können, daß die Bundesgenossen Italien und Rumänien sehr wenig
geneigt waren, den Bündnisfall als gegeben anzuerkennen, zumal ja
Österreich nach wie vor hartnäckig jedes Angebot einer Kompensation
an Italien verweigerte.
Dazu kam noch ein weiterer recht bedenklicher Umstand. General
Conrad ließ mitteilen, daß er einen Angriff mit ungenügenden Kräften
für unrichtig halte, und daß der allgemeine Vormarsch voraussichtlich
erst am 12. August werde beginnen können. Damit schwand die Mög
lichkeit, durch schnelle militärische Niederwerfung Serbiens eine voll
endete Tatsache zu schaffen, bevor andere eingreifen könnten. Es ist
erstaunlich, daß Österreich, dessen Ziel ja diese Niederwerfung von
Anfang an war, nicht nur die Unterhandlungen abbrach und mobili
sierte, sondern auch formell den Krieg erklärte, ohne zu sofortigem
Losschlagen gerüstet zu sein. Dadurch ergab sich die höchst un
günstige Situation, daß man den Gegnern noch über 14 Tage Zeit
lassen mußte, um diplomatisch einzugreifen oder ihre Rüstungen zu
vollenden.
Aus der völligen Umgestaltung der Gesamtlage, die durch diese
Ereignisse und Nachrichten seit dem 27. Juli bewirkt wurde, ergab
sich die veränderte Haltung der deutschen Politik seit diesem Zeit
punkt. Obwohl der Kaiser Österreich gern die militärische Genugtuung
einer Besetzung Belgrads gegönnt hätte, nachdem die Mobilisation
einmal erfolgt war, mußte er doch einsehen, daß jetzt ein zurück
haltender Einfluß in Wien dringend notwendig sei.. Der Reichskanzler
war der Ansicht, daß Österreich der ganzen Welt jetzt erst recht