Full text: Von Bismarck zum Weltkriege

Grundzüge der deutschen Politik 
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wenn wir in dauernder freundschaftlicher Fühlung mit der größten 
See- und Kolonialmacht, mit England, blieben. Die Lage in Europa 
war bedenklich genug. Der alte Gegensatz zu Frankreich war durch 
die russisch-französische Annäherung stärker als je zu einer dauernden 
Gefahrenquelle geworden; der österreichisch-russische Gegensatz im 
nahen Orient konnte jeden Augenblick zum Zusammenstoß führen 
und mußte dann Deutschland und Frankreich auf den Plan rufen. So 
lange ein solcher Konflikt auf Europa beschränkt blieb, konnten wir 
im Verein mit den übrigen Dreibundmächten seinem Austrag mit Zu 
versicht entgegensehen. Wenn aber ein dauernder weltpolitischer 
Gegensatz zu England hinzutrat und das Inselreich auf die Seite un 
serer Gegner trieb, wurde die Gefahr ins Unendliche vergrößert, zu 
mal da dann auch Italiens Mitwirkung an unserer Seite höchst un 
wahrscheinlich wurde. 
Im Geiste von Bismarcks Politik hätte es gelegen, den Ausbau 
unseres Kolonialreichs nach einem festen, begrenzten Plan und im Ein 
verständnis mit England zu betreiben und jeden einzelnen Schritt dazu 
von der allgemeinen politischen Lage abhängig zu machen. Auch würde 
bei der Erweiterung unseres Macht- und Interessenkreises und der 
dadurch erhöhten Reibungsgefähr der rechtzeitige Ausbau eines neuen, 
nicht mehr rein europäischen Bündnissystems zur Sicherung gegen 
weltpolitische Gefahren ein Gebot der Vorsicht gewesen sein. Unseren 
Staatslenkern stand aber in der Zeit nach Bismarcks Entlassung kein 
bestimmter Plan, etwa der Gedanke eines geschlossenen Kolonialreiches 
in irgendeinem Teile der Welt vor Augen; sie hatten vielmehr nur das 
allgemeine Bestreben, bei der Teilung der Erdoberfläche unter die großen 
Mächte nicht zu kurz zu kommen, überall auch etwas zu erhalten, wo 
andere etwas gewönnen. Gerade dadurch wurden immer neue Rei 
bungsflächen geschaffen, gerade dadurch wurde ein allgemeines Un 
behagen erzeugt, ein Gefühl der Unsicherheit über Deutschlands letzte 
Absichten, die niemals greifbar erschienen und die man sich als uferlos 
und gefährlich vorstellte. Der Gedanke der Kompensationspolitik, dessen 
Hauptvertreter Herr von Holstein war, führte zu immer neuen mehr 
oder minder heftigen Auseinandersetzungen mit England, Frankreich 
und Rußland. 
Die Gesamtlage war anfangs für Deutschland günstig. Der 
russisch-französische Zweibund und das britische Weltreich standen 
sich in allen Teilen der Welt feindlich gegenüber. Beide Gruppen 
umwarben uns, und wir konnten uns nicht nur als gegen augenblick 
liche Gefahren gesichert, sondern zeitweise fast als Schiedsrichter der 
Welt betrachten. An der Spitze des Dreibundes stellten wir einen 
dritten ebenbürtigen Machtfaktor dar. Dies Gefühl steigerte unser 
Selbstbewußtsein und ließ uns manchmal im Ton unserer Sprache 
und der Art unseres Vorgehens die Grenzen der Vorsicht und des 
Taktes überschreiten; wir reizten dadurch häufig die Empfindlichkeit
	        
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