Frankreich und Rußland
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allein an seiner Person; sie waren durch die Konsequenzen der bis
herigen Politik und die Furcht vor einer deutschen Machtsteigerung
diktiert. So weitblickend war auch die englische Politik nicht, daß
sie die ferneren Zukunftsgefahren schon deutlich gesehen hätte. Die
Niederwerfung Deutschlands und der Zusammenbruch Rußlands und
Österreichs haben für die nächste Zeit eine Hegemonie Frankreichs
auf dem Kontinent geschaffen, die für England noch unangenehmer
und gefährlicher ist als alles, was ein Sieg Deutschlands hätte zur
Folge haben können. Vielleicht gibt es heute schon manchen Engländer,
der die Politik der Ära Grey im tiefsten Herzen bedauert.
Ganz anders stand es mit Frankreich und Rußland. Ich zweifle
nicht daran, daß auch in diesen beiden Ländern die große Masse
der Bevölkerung friedliebend war. In den regierenden Kreisen gab
es in Paris wie in Petersburg zwei Parteien; die eine wollte den
Frieden, wenn er irgend mit Ehren zu erhalten sei, die andere den
Krieg. In Frankreich konnte sie an den nie erloschenen Revanche
gedanken anknüpfen; sie fand hier ihre schärfsten Vorkämpfer an
Delcasse und Poincare. Sie erlangte seit den Zusammenstößen mit
Deutschland in Marokko und seit der Begründung der Entente immer
stärkeren Einfluß und schließlich, seit Poincare an der Spitze stand,
die eigentliche Führung. In Rußland selbst war der Zar das Haupt
der Friedenspartei; die Kriegspartei war lange ohne eigentlichen Füh
rer. Weite militärische Kreise und alles, was dem Panslawismus zu
neigte, stützte in Petersburg die Kriegspartei. Sie fand an Iswolsky
nach dessen persönlicher Niederlage in der bosnischen Krise .einen eif
rigen Förderer; als Botschafter in Paris geriet der eitle und rach
süchtige Mann ganz in den Bannkreis der Gruppe Delcasses und Poin-
cares und leistete ihr durch seinen Einfluß die wichtigsten Dienste.
Seine Berichte aus Paris, deren Veröffentlichung im Livre Noir be
gonnen hat, zeigen jedem, der nicht durch Vorurteile verblendet ist,
aufs deutlichste, wie vorsichtig und raffiniert zugleich Iswolsky mit
Poincare im Bunde den Krieg vorbereitete. Aufs geschickteste verstand
er, widerstrebende Elemente, wie den französischen Vertreter in Peters
burg, Georges Louis, zu beseitigen, die Presse zu bearbeiten und
zu bestechen und die unersättliche Eitelkeit Poincares zu benutzen. Man
kann höchstens darüber im Zweifel sein, wer von beiden mehr der ge
schobene, wer der schiebende Teil war. Ihr enges Zusammenwirken
steht außer Frage. Iswolsky kann nicht oft genug wiederholen, welches
Glück es sei, daß gerade Poincare an der Spitze Frankreichs stehe und
nicht irgendein weniger zuverlässiger und gewandter Politiker.
Soweit man von einer Schuld einzelner Persönlichkeiten am Welt
kriege reden kann, sind es diese Männer, die sie trifft. In langjähriger,
zäher und zielbewußter Arbeit haben sie den Boden vorbereitet, stets
vorsichtig darauf bedacht, nach außen hin ihre wahren Ziele nicht
vorzeitig hervortreten zu lassen, sondern den Augenblick abzuwarten,