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B. 1, 9 7. Die Reformation Lübecks
der neuen Botschaft zuerst das Ohr liehen und fast mit Gewalt den regierenden
Kreisen die kirchliche Neuerung aufdrängten: so mischt sich hier in das religiöse
zin sozial-revolutionäres Motiv').
2. Die reformatorische Bewegung bis zum Durchbruch (1530).
Ein Brief Amsdorfs an den Lübecker Rat vom 20. Februar 1522 zeigt, daß
schon damals der „Martinismus“ zahlreiche Anhänger in der Stadt gewonnen
hatte. Hier, wo Buchdruck und Buchhandel blühten“), scheinen Luthers Flug—
schriften die ersfte Bewegung erweckt zu haben. Jedenfalls verbot der Rat, einem
kaiserlihhen Mandat folgend, am 10. Juli 1524 den Verkauf, den Druck, das
desen und den Besitz Lutherscher und anderer „dem christlichen Glauben entgegen—
stehender““ Schriften. Statt des gedruckten kam nun das mündliche Wort: zwei
Sendboten des Praemonstratenserklosters in Stade (s. oben S. 32) erschienen
als Evangelisten und predigten mit großem Zulauf in Bürgerhäusern. Aber auch
da griff der Rat ein: nach kurzer Wirksamkeit mußte der eine Manhusß, die
Stadt verlassen, der andere Johann Osenbrügge, ward ins Gefängnis
geworfen, wo er trotz der Fürbitten König Friedrichs, Herzog Christians und des
Kurfürsten von Sachsen bis zum Jahre 1528 festgehalten wurde, um dann gleich—
falls der Stadt verwiesen zu werden. Die Martinisten halfen sich damit, daß
sie am Sonntag gen Oldesloe pilgerten, wo die evangelische Predigt schon offen
erscholl (s. oben S. 32). Auch das suchte der Rat zu hindern, doch ohne Erfolg.
Vielmehr begannen nun auch zwei Stadtgeistliche, A ndreas Wilmsen
(Wilhelmi) an St. Aegidien un Johann Walhof an St. Marien das
Evangelium zu predigen. Aber alsbald' wurden auch diese verwiesen — Wilmsen
zing nach Rostock, Walhof nach Kiel —, erklärte Lutheraner wurden polizeilich
bestraft, dLuthers Bücher durch den Büttel auf dem Markte verbrannt. Aber
gerade der Widerstand der Regierenden stärkte die Bewegung unter der „ge—
meinen“ Bürgerschaft. In den Jahren 1528,29 sollen die Martinisten 2000
bis 3000 neue Anhänger gefunden haben'), und bald kam für sie die Gelegenheit,
ihre Forderungen kräftig durchzusetzen.
Die Stadt hatte sich durch ihre kriegerischen Unternehmungen im Norden in
große Schulden gestürzt, deren Abtragung starke neue Abgaben forderte. Der
sonst so selbstherrliche Rat mußte der Buͤrgerschaft kommen, und diese benutzte
aun die Verlegenheit der Aristokratie dazu, sowohl auf verfassungsmäßigem wie
auf religiösem Gebiete ihre Forderungen durchzusetzen. Es begann ein langes
) Die beste Darstellung der Lübeckischen Reformation finde ich noch immer bei Waitz,
Lübeck unter Jürgen Wullenwever, Bd. 1, S. 30—267.) Neuere Darstellung bei Heiner ich
Schreiber, die Reformation Lübecks (Schrr. d. B. f. Reformationsgesch., Schrift 74,
Halle 1902). Die neueste: Wil helm Jannasch, Der Kampf um das Wort. Aus der
Blaubensgeschichte einer deutschen Stadt. Vübeck 1931— ein höchst lesenswertes, geistvoll und
ebendig geschriebenes Büchlein, doch ohne wissenschaftlichen Awarat. Weitere Lüeratur s. b.
Witt 180f.
9) Viele geistliche Schriften sind in Lübeck auch vor der Reformation gedruckt worden, dar⸗
uinter auch 1494 eine der wertvollsten vorlutherischen Bibelübersetzungen: „De Biblie mit
olitiger achtinge, recht na deme latine in dudesk auerahesettet“. mit Glossen namentlich nach
Nicolaus de Lyra.
) „Was alle Nachbarstädte errungen hatten, und was Lübecks Bürger auf ihren Reisen
oder daheim von Gastfreunden und Geschäftsgenossen zugleich als ein Werk der Freiheit und
als Grundlage der Seelenseligkeit rühmen hörten, das gewann immer mehr Raum auch unter
ihnen.“ Waitz S. 42.