1. Philippismus und Luthertum.
Die vielen Streitigkeiten, die sich nach Luthers Tode innerhalb des Luther—
tums erhoben, lassen sich letztlich aus dem Gegensatz zweier Richtungen begreifen,
welche wir als Philippismus und Luthertum voneinander scheiden
können.
Bis zu Luthers Tode lagen die beiden Größen ungeschieden ineinander. Doktor
Martinus und Magister Philippus gehörten für das allgemeine Bewußtsein des
deutschen Protestantismus durchaus zusammen. Zwar nicht in völlig gleichem
Range. Luther war allemal die Sonne und Melanchthon der Mond. Luther
war der von Gott geschenkte Profet, Melanchthon des Profeten Ausleger: er war
der Dozent und Dogmatiker des Luthertums, und seine in klassischem Latein ge—
gebenen klaren Sätze waren das Medium für die neue Gedaukenwelt. Daß dabei
die Kanten und Ecken vielfach abgeschliffen wurden, daß Melanchthon weder für
die mystische Tiefe noch für die religiöse Lebendigkeit, noch für die evangelische Ent—
schiedenheit Luthers der richtige Interpret war, blieb der grosien Mehrheit ver—
borgen. Diese sah eben Luther durch das Medium Melanchthon, und so war
es selbstverständlich, daß sie beide als eins und dasselbe ansah.
Das wurde erst anders, als nach Luthers Tode Melanchthon, von dem Druck
der gewaltigen Persönlichkeit befreit, noch 14 Jahre hindurch Zeit hatte, seine
persönliche Eigenart weiter auszubauen. Da fügte es die Geschichte so, daß der
allgemein verehrte Meister durch seine übergrosse Nachgiebigkeit, die er in den
interimistischen Streitigkeiten an den Tag gelegt hatte, den entschieden und klar
evangelisch denkenden verdächtig wurde: in dem grossen Flacius erwuchs ihm ein
gefährlicher Feind. Indem man nunmehr seine Lehre scharf unter die Lupe nahm,
entdeckte man, daß er in mehreren wichtigen Punkten von Luthers Lehre abwich.
Vor allem in dem einen Herzpunkt der lutherischen Lehre, dem „allein aus Gnaden
gerecht und selig“. Mit Recht hat man in diesem Punkte Melanchthon ecines
gewissen Synergismus beschuldigt, der sich in dem Satze zusammenfastte: Deus
volentes trahit“). Aber auch in dem anderen Punkte, der für Luther per—
sönlich ohne Frage ein Herzpunkt gewesen ist: in seiner Lehre, dast uns im Abend-⸗
mahl der wahrhaftige Leib und das wahrhaftige Blut Christi gegeben werde. In
diesem Stücke kam Melanchthon zu Anschauungen, die, so vorsichtig er sie auch
auszusprechen sich bemühte, denen Kalvins zum mindesten sehr nahe kamen. Zu
dieser Abwendung von der echt lutherischen Abendmahlslehre, die er doch in der
ursprünglichen Augsburger Konfession noch deutlich ausgesprochen hatte, kam Me—
lanchthon durch seine intimere Beschäftigung mit der Lehre der altkatholischen
Kirche und der von den Vätern gelehrten, also orthodoren Christologie. Bei der
reinlichen Scheidung, die das Konzil von Chalcedon zwischen der menschlichen
und der göttlichen Natur Christi vollzogen hatte, konnte er es mit seinem wissen—
schaftlichen Gewissen nicht vereinigen, der vollen menschlichen Natur, dem Fleische
Christi eine wirkliche Gegenwart im Abendmahl zuzusprechen. Luther dagegen,
fest und unerschütterlich bestehend auf dem, was geschrieben stand: dies ist mein
Leib, hat, um diese Realpräsenz des Leibes Christi wissenschaftlich zu ermöglichen,
eine Christologie ausgebildet, die in kühner eigenständiger Spekulation über die chal—
cedonensische hinausschritt und in fast monophysitischer Weise die beiden Naturen
Christi aufs engste zusammenschloß, somit auch seinem menschlichen Leibe die gött—
Gott zieht die da wollen.
Feddersen, Kirchengeschichte. B. 1II.