258 B. 2, K. 2, 8 21. Philippismus und Luthertum
liche Eigenschaft der Allgegenwart (Ubiquität) zusprach. Und damit ist nun der
Punkt gegeben, an welchem wir Heutigen noch deutlicher als die Zeitgenossen den
tiefsten Unterschied zwischen Luther und Melanchthon erkennen: Luther war mit
seinem persönlichen Gewissen an das Schriftwort gebunden und sah in ihm allein
das Maßgebende, soweit er auch davon entfernt war, die sekundäre Autorität der
Väter zu bestreiten. Melanchthon dagegen, gewiß ein tief frommer Mann, aber
doch ohne die eigenständige und tiefpersönliche Frömmigkeit Luthers, legte, je älter
er wurde, ein desto entschiedeneres Gewicht auf den Konsensus mit der altkatho—
lischen Ueberlieferung und machte damit eine gewisse Rückwendung zum Katho—
lizismus. Hier der Biblizist, dort der Traditionalist, der im unpersönlichen Sinne
orthodox sein wollende, das ist der letzte und tiefstgreifende Unterschied zwischen
Luther und Melanchthon.
Damit nun, daß diese Unterschiede zwischen den beiden Größen des lutherischen
Protestantismus mehr oder weniger deutlich erkannt wurden, war die Schei—
dung der Parteien gegeben.
Die Lutheraner, genauer die echten oder Gnesiolutheraner — von den
Gegnern „Flacianer“ gescholten — waren diejenigen, welche die Abweichungen
Melanchthons von Luther deutlich erkannt hatten und deshalb eine kräftige Rück—
wendung von jenem zu diesem anstrebten.
Bei näherem Zusehen jedoch treten uns innerhalb dieser nicht allzu großen,
aber starken und geistesmächtigen Schar zwei Richtungen vor Augen, die man
als die ältere und die jüngere oder auch als die norddeutsche und die süddeutsche
bezeichnen kann.
Dieälhteren Gnesiolutheraner waren durch Melanchthons Schule
gegangen und deshalb, wenn sie sich auch von den „Ketzereien“ des Meisters ab—
wandten, doch in ihrer Gesamthaltung durch ihn wesentlich bestimmt. Zu diesen
gehörten fast alle Niedersachsen, auch die am Konkordienbuch beteiligten M.
Chemnitz (in Braunschweig) und N Selnecker (in Leipzig und Wolfen
büttel), sowie Da vid Chytraeus in Rostock.
Diejüngeren Lutheraner — die Richtung der nächsten Zukunft —
waren von Johannes Brenz geschult, diesem tiefsinnigen Theologen, der
als theologischer Interpret seiner Gedanken Luthern ohne Frage weit kongenialer
als Melanchthon war: sie hatten daher zu Melanchthon keine inneren Beziehungen
mehr, weder wissenschaftliche, noch solche der Pietät.
Die Besonderheit dieser Theologenschule war die konsequente spekulative Aus—
bildung der echt-lutherischen Christologie. Luther hatte zur Be—
gründung seiner Abendmahlslehre im Kampf mit den „Sakramentierern“, be—⸗
sonders in seinem „Großen Bekenntnis vom Abendmahl Christi“ (1527) eine
Christologie entwickelt, welche, weit über die orthodoren altkirchlichen Formeln
hinausgehend, die realen Unterschiede der beiden Naturen in Christo tatsächlich
aufhebt. Er hat späterhin diese Lehre nicht stark urgiert und die ganz anders
gerichtete Christologie Melanchthons (die ja freilich auch die „orthodore“ war)
nie bekämpft. So war es begreiflich, das die von Melanchthon gelehrten Nieder—
sachsen sich des Unterschiedes der Lutherschen von der Philippistischen Christologie
zunächst nicht bewußt wurden. Und doch ist es klar, daß diese fast monophysitische
Ineinandersetzung der menschlichen und göttlichen Natur Christi im Gegensatze zu
der dem historischen und rationalen Denken mehr zusagenden strengeren Scheidung
derselben der mystischen Religiosität Luthers allein entsprach. Diese echt lutherische
Christologie haben nun die „Schwaben“ konsequent durchgeführt und scholastisch