Orthodoxie in SH
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Es hat Zeiten gegeben, da man die lutherische Orthodoxie in Grund und Boden
zu verdammen geneigt war. Das ist ein großes geschichtliches Unrecht. Gewiß:
durch die Festlegung der Lehre wurde vollendet, was im 10. Jahrhundert begonnen
war: der Bau der lutherischen Kirche als Anstalts- und Gesetzeskirche nach ka—
tholischer Art. Aber wer wollte sagen, daß diese Kirchenform an sich verkehrt
wäre? Für eine Grosikirche, eine Volkskirche scheint eine klerikale Leitung und
feste Form auch der Lehre unentbehrlich zu sein. Und wer wollte sagen, dasi die
lutherische Orthodoxie wahrhaft christliche Frömmigkeit und ernstes christliches
Heiligungsstreben an sich unmöglich gemacht hätte? In dem eisernen Panzer der
von den orthodoxen Theologen geschmiedeten Formeln steckte ja der lebendige Leib
des lutherischen Evangeliums, und dies Evangelium entsprach Gottes Wort und
konnte die Seelen selig machen. Wäre dies Evangelium von allen Predigern der
neuen Kirche in aller Lauterkeit und Einfalt, im Geist und in der Kraft Gottes
und getragen von einem ernsten Heiligungsstreben der Verkünder gepredigt worden
— es hätte sich ein Strom des Lebens über die lutherischen Lande ergießen müssen.
Aber das ist ausgeblieben. Das letzte und höchste Ziel einer Kirche, in dem
von ihr betreuten WVolke ein grosies Wolk von Gotteskindern zu schaffen, hat die
lutherische Kirche im ersten Jahrhundert ihres Besteheus nicht entfernt erreicht.
Was erreicht wurde, war höchstens die Aufrichtung oder — so sagen wir vielleicht
besser — die Erhaltung der im Volk von der alten Kirche her ererbten äußeren
Kirchlichkeit und die Erziehung der Volksmasse zu einer gewissen bürgerlichen
Ehrbarkeit. Warum nicht mehr?
Nicht weil ein neuer Klerus aufgerichtet war, sondern weil dieser Klerus ver—
sagte. Nicht weil die Lehre fest normiert war, sondern weil die meisten Prediger
sie nicht recht zu verkündigen wusiten und dem Volke statt des Brotes des Lebens
unverdauliche Brocken akademischer Gelehrsamkeit auftischten. Nicht weil sie be—
amtete und angestellte Leute waren, sondern weil die meisten ihr Amt als bloße
Brotversorgung auffastten und sich mit der äußerlichen Erfüllung ihrer Amts—
pflichten begnügten und nicht wenige sogar durch üble Lebensführung dem von
ihnen gepredigten Evangelium Hohn sprachen.
So war es im großdeutschen Luthertum. So war es auch in unserm Lande.
Daß jedoch Luthers Geist und Kraft in der auf seinen Namen gegründeten
Kirche nicht völlig erstorben war, zeigt die im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts
erwachende, vom grosien Krieg belebte und schließlich in den Pietismus aus—
muündende Bewegung, die auf die geistliche Belebung der in Schematismus er—
starrten Kirche hinzielt.
2. Das „wahre Christentum“.
Das Ziel, eine bessere christliche Lebenshaltung des Volkes herbeizuführen, ver—
folgten schon die gesetzlichen und polizeilichen Masinahmen der Fürsten, wie wir
sie inbezug auf unser Land schon S. 174ff. geschildert haben. Auch die kräftigen
Versuche eines Stephan Klotz, in der verwilderten Zeit gute kirchliche Ordnung
zu schaffen (S. 185 ff.), dienten diesem Ziele. Aber weil alle diese Masinahmen
im Rahmen äußerlicher Art blieben, konnten sie auch nur äußerliche Erfolge
haben. Eine wirkliche Erneuerung des Molkes im Geiste Christi war nur durch
innerliche Einwirkung, durch Schaffung eines neuen, lebendigen Geistes zunächst
in der Geistlichkeit und dann durch sie im ganzen Volke möglich. Und eine Reform—
bewegung in diesem Sinne ist tatsächlich gekommen.