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B. 2, K. 2, 9 23. Schwärmertum
tritt überhaupt eine etwas freundlichere Stellung zu „Ketzern“ hervor. Er ver—
wirft als unchristlich ohne weiteres Punkt J und 2. Von den übrigen Artikeln,
meint er, hätte man nicht mit ihnen zu fechten, wenn nicht etwas Fremdes darunter
gesucht werde. Im übrigen habe er, wie man (in Husum) wohl gemeinet habe,
mit diesen neuen Geistern nicht verkehrt, nur einmal im Winter sei Knutzen bei
ihm gewesen, „sich aber von dergleichen Sachen nicht vernehmen lassen, sondern
mit mir geredet von Johann Arndten Schriften und von der Gottseligkeit, und
wie solche bei so wenigen zu finden, daß ich damals nichts böses von ihm können
argwöhnen““. Beide, Dame und Egardus, hatten mit den beiden frommen Laien
das gemeinsam, daß sie von J. Arnd die Erkenntnis der Verderbtheit der Kirche
und der Notwendigkeit einer Besserung gelernt hatten. Wenn selbst solche Kirchen—
männer zu einer sicheren Ablehnung der Hauptthesen Tetings und Lohmanns
kamen, so ist das ein Beweis, daß diese im Sinne der damaligen Kirche tatsächlich
Ketzer und Irrlehrer waren. Die heutige, durch Pietismus und historische Kritik
hindurchgegangene Kirche würde solche Leute wohl tragbar finden, die damalige
konnte es nicht. Das Problem, wie sich die von Jesus geforderte Sittlichkeit
mit der bürgerlichen Sittlichkeit vertrage, ist auch heute noch nicht gelöst.
6. Der Fall Sinknecht.
Was wir bisher von den schwarmgeistigen Tendenzen gehört haben, zeigt, daß
sie zunächst nur in frommen Laienkreisen Fußs gefaßt hatten: die Theologie, die im
Tetingschen Lehrprozeß von der Orthodoxie bekämpft wurde, war eine ausge—
sprochene LRaientheohogie. Daß jedoch in unserm Lande auch die Geistlich—
keit nicht völlig unberührt von ihnen blieb, zeigt der mit der Tetingschen Kontro—
verse ungefähr gleichzeitige Lehrprozeß gegen den Pastor Peter Sinknecht
Sinenetius) in Hadersleben.
Dieser „Fall“ ist von dem — P. D. H. Prahll in unsen Bu Mo9, S. 150 ff.
mit besonderer Sorgfalt und Gründlichkeit behandelt worden. Auf seine besonders
auch durch die allgemeine Einleitung S. 133 ff. wertvolle Darstellung weisen
wir die Leser daher ausdrücklich hin. Auch eine vollständige Nachweisung der
Quellen und der früheren Literatur findet sich dort S. 131 f.
Prahl tritt hier wesentlich als Apologet des nach seiner Meinung zu Unrecht
als „Irrlehrer“ verurteilten Sinknecht auf. Nach meiner Meinung ist er dabei
einer Gefahr erlegen, welcher Apologien vergangener Größen nur allzu leicht
ausgesetzt sind: daß sie nämlich Werturteile, die für die Gegenwart durchaus be—
rechtigt sind, in die Vergangenheit zurücktragen. Heute, in unserer durch Pietis—
mus und Rationalismus hindurchgegangenen lutherischen Kirche würde Sinknecht
wegen seiner Lehre schwerlich diszipliniert worden sein — sie verdaut ganz andere
Irrlehren. Daß er jedoch von der damaligen, durch strenge und ernste Orthodorie
beherrschten lutherischen Kirche nicht als „reiner“ Lehrer anerkannt werden konnte,
scheint mir durchaus verständlich. Auch war es nicht allein seine Lehre, was ihn
zu Fall brachte, sondern auch gewisse Disziplinwidrigkeiten; wie er denn überhaupt
als „ein recht beschwerlicher Herr“ (BuM 9, S. 522), als ein wenig verträg—
licher Kollege und als etwas unklarer Theologe erscheint.
Peter Sinknecht, als Sohn eines Pastors an St. Jakobi um 1580
zu Lübeck geboren, studierte in Rostock, we er die Freundschaft des nachher nach
Schleswig versetzten Chr. Sledanus (vergl. oben S. 1602) gewann. 1013 kam
er als Hauptpastor zu St. Marien nach Hadersleben. Nach Prahl S.