B. 1, 6 1. Einleitung
haft sein kann, ob sie das echte Christentum in der Kirche mehr gefördert oder ge—
hindert hat!sa),
Wenn wir alle diese zeitgeschichtlichen Bindungen und Verknüpfungen, in die
kuthers Botschaft tatsächlich eingegangen ist, ernsthaft bedenken, so wird es durch—
aus verständlich, warum sie eine umfassende religiöse und sittliche Erneuerung als
sofortige und unmittelbare Folgeerscheinung unmöglich schaffen konnte.
Die erste und greifbarste Auswirkung der Reformation ist vielmehr die Auf-
richtung des landesherrlichen Kirchenregimentes und
die damit erfolgte grundlegende Veränderung in dem
Verhältnis zwischen Staatund Kirche.
Die Reformation des 160. Jahrhunderts unterscheidet sich von allen voran—
gehenden Reformationsversuchen dadurch, daß diese das Kirchenregiment zwar ver—
bessern wollten, aber die bisherigen Inhaber der Kirchenleitung an ihrer Stelle
beließen, jene aber die Hierarchie vernichtet hat. Damit ist nicht nur eine radikale
Veränderung des Kirchenregiments eingetreten, sondern auch der Staat hat sich
damit gewandelt, mag auch diese Wandlung erst im Laufe der Zeit spürbar ge—
worden sein: so gewiß sich der Vorgang der Reformation selber noch auf dem
Grunde mittelalterlicher Ideen abgespielt hat — in ihren Ausmwirkungen ist sie ein
wesentlicher Schritt zummodernen
— gewiß auch schon im Mittelalter die weltlichen Gewalten Einfluß auf die
Leituing des Kirchenwesens erstrebt und tatsächlich ausgeübt haben — rechtlich,
gesetzllich, ide elll lag doch das Kirchenregiment durchaus noch in der Hand
der Hierarchie. Noch war das Recht der Domkapitel, die Bischöfe zu wählen
ebensowenig aufgehoben wie das Recht des Papstes, die Gewählten zu bestätigen
oder u. U. die Bischofsstühle freihändig zu besetzen („Reservatrecht“). Noch lag
die Ausbildung der Geistlichen, ihre Weihe, die letzte Entscheidung über die Stellen—
besetzung (die Investitur), vor allem aber das Disziplinarrecht über den Klerus
fest und unbestritten in der Hand der Bischöfe oder ihrer Stellvertreter; im
Prinzip war der Klerus immer noch die von der Weltmacht unab⸗
hängige Heerschar Christi“). Wenn mit der Reformation in allen
diesen Stücken die Landesobrigkeit an Stelle der Hierarchie getreten ist und den
Klerus aus einem Machtinstrument der Bischöfe zu einem willigen und gefügigen
Werkzeug ihrer eigenen Macht gemacht hat, so ist das eine Veränderung, deren
Tragweite kaum groß genug geschätzt werden kann: es ist der er ste Shritt
nichht nur zur Landes-,sondernauch zur Staatskirche.
—— Wir haben zu bedenken, daß trotz aller Eingriffe gerade auf diesem Gebiete
die Hierarchie durch ihren gewaltigen Grund- und Kapitalbesitz noch immer eine
starke wirtschaftliche Macht darstellte und als solche zu den privilegierten
„Ständen“ des mittelalterlichen Staates gehörte. Die „Prälaten“ (die Bischöfe,
die Kapitel, die Herrenklöster) hatten Sitz und Stimme auf den Landtagen und
vermöge ihrer besseren geistigen Ausbildung oft einen großen Einfluß auf deren
Beschlüsse. Indem mit der Reformation die Hierarchie beseitigt wurde und der
kirchliche Besitz zum arößten Teile in die Hände der Fürsten überging, vermehrte
182) Der letzte Ausläufer des ven Luthers Kirche mitgeschleppten rationalen Elements ist der
Rationalismus, der das religiöse Erbe Luthers völlig aufzehrte und eine Religion schuf, die mit
dem Neuen Testament wenig mehr zu tun hat.
ar) Wenn Führer und Geführte tatsächlich diese Unabhängigkeit weithin eingebüßt hatten, ist
das nur ein Beweis dafür, wie schwach und reformbedürftig die Kirche geworden war, nicht
aber gegen eine geistliche Leitung der Kirche an sich.