Full text: 1517 - 1721 (2)

26. Friedrich Breckling und das Eindringen des Pietismus in SH. 
1. Der Pietismus. 
Neben dem Rationalismus des 18. Jahrhunderts hat zur inneren Auflösung 
des Altluthertums, zum Sterben der orthodoxen Kirchengestalt nichts so kräftig 
beigetragen wie die in dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts in die Kirche 
eindringende religiösse Bewegung, welche wir als den Pietis mus zu bezeichnen 
pflegen. Da es sich in ihm um eine höchst lebendige und individuell sehr ver— 
schieden gestaltete Bewegung handelt, ist es nicht leicht, diese Erscheinung auf 
einen einheitlichen Nenner zu bringen. 
So würde es falsch sein, wenn wir den Mystizismus oder den innigen Umgang 
der Seele mit der Person des Heilandes, die Jesusfrömmigkeit, als besondere 
Merkmale des Pietismus kennzeichnen wollten. Die mystische Religiosi— 
tät ist eine individuelle Form der Frömmigkeit, welcher wir als Einzelerscheinung 
in aUhen Kirchenformen begegnen. Es hat viele mystisch gerichtete Pietisten 
gegeben, aber auch solche, auf welche wir dies Prädikat nicht anwenden dürfen — 
man denke nur an Spener selber. Die Jesusfrömmigkeit finden 
wir schon beim heiligen Bernhard und, nachdem sie in der Reformationszeit zurück— 
getreten ist, bei der frommen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts; dem Pietismus 
ist höchstens zum Vorwurf zu machen, dasß er Ausartungen und Verzerrungen 
dieser Frömmigkeit innerhalb seines Bezirkes nicht entgegengewirkt hat. Wenn 
man aber den Pietismus besonders als Reformbewegundg kennzeichnet, 
so ist ja freilich richtig, das eine Reform der orthodoxen Kirche höchst nötig war, 
und daß der Pietismus in seinem Kampfe wider das unheilige Leben der Geistlich— 
keit, gegen Heuchelreligion und die bloß äußerliche Kirchlichkeit der grossen Masse 
notwendiges und erfreuliches geleistet hat. Aber man darf doch nicht vergessen, 
daß eine derartige Reform schon vor dem Auftreten des Pietismus von der 
frommen, „lebendigen“ Orthodorie des 17. Jahrhunderts kräftig eingeleitet wor. 
den war. Wenn der Pietismus nichts weiter war als eine innerkirchliche Reform 
bewegung, so versteht man nicht, weshalb nicht nur orthodore Streithähne, sondern 
auch ernste und fromme Vertreter der Orthodorie — ich denke z. B. an V. E. 
Löscher und an unsern Chr. Kortholt — ihn abgelehnt haben. Erst wenn wir 
das bedenken, kommen wir m. E. zu einer richtigen Einschätzung des Pietismus 
und zur Erkenntnis seiner Besonderheit. 
Die Besonderheit dieser Bewegung besteht nämlich darin, daß mit ihr eine 
Form des Christentums in die Reformationskirche eindringt, welche bisher mit 
Bedacht aus ihr ausgeschlossen und von ihr „verdammt“ worden war: der schr ann— 
kenlosereligiöse Subjektivismus, der Enthusiasmus, der Spi— 
ritualismus, das Geistchristentum oder wie wir sie sonst bezeichnen wollen. Der 
Pietismus ist die gerade Fortsetzung jener enthusiasti— 
schen Laienfrömmigkeit, wie wir sie z. B. bei dem Tetingschen Freun— 
deskreis (S. 297 ff.) beobachtet haben. 
Wer wollte sagen, das diese Art nicht ihr gutes Recht hätte? Wer dürfte 
leugnen, daß urchristliche, neutestamentliche Motive in ihr offenbar werden? Aber 
das ist auch gewis, daß diese Richtung jeder großkirchlichen Organisierung des 
Christentums widerstrebt und nur in einem sich ins unendliche zersplitternden 
Feddersen, Kirchengeschichte, B. II.
	        
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