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Mayer?') geführten orthodoxen Mehrheit des Ministeriums, und äußerlich,
unterftützt durch die Fäuste der Bürgerschaft, siegte zunächst die Orthodorxie: Horb
wurde ausgewiesen (1093) und starb 1005 im „Exil“ auf holsteinischem Boden
zu Schlems bei Schiffbekr). Aber tot war darum der Hamburger Pietismus
nicht: er behielt sein Existenzrecht und wirkte in der Stille weiter.
Altona, die religiöse Freistatt, war nicht nur Heimat für die mit dem
Pietismus sympathisierenden Sekten (so der Mennoniten und, eine Zeitlang,
j6072— 74 der Labadisten“), sondern auch der Zufluchtsort für viele anderswo
unmöglich gewordenen Einzelschwärmer. Hier lebte von etwa 1090 bis zu seinem
Tode (etwa 1718) der rabiate Kirchenfeind Johann Michaelis, der,
trotzdem er kein eigentlicher Pietist war, doch mit Häuptern des Pietismus wie
Professoer May in Gießen freundschaftlich korrespondiert hat. Hier hielt sich
1711 bis 1719 der hochbedeutende, halb pietistische, halb rationalistische Jo hann
Conrad Dippehl auf, bei dem Oberpräsidenten Chr. Detl. von Reventlov
als „Goldmacher“ beschäftigt und von König Friedrich zum Kanzleirat ernannt “).
Hier genas die berüchtigte Eva von Butlar eines Kindes und soll sich
daraufhin mit der Kirche versöhnt haben. Dazu beherbergte Altona eine ganze
Anzahl kleinerer Propheten und religiöser Sonderlinge. Obgleich diesen Gästen
unseres Landes jede Propaganda unter den Eingeborenen strenge verboten war,
konnte es doch nicht anders sein, als daß ihre Schriften auch austerhalb der Stadt—
grenzen verbreitet wurden und dem (kirchenfeindlichen) Pietismus Vorschub lei—
steten. Eine positive agitatorische Wirksamkeit in Holstein ist z. B. ven Michaelis
ausdrücklich bezeugt (s. unten).
Wie Lübeck einst für die Förderung des strengen Luthertums im Osten Hol—
steins wirksam gewesen ist, so hat auch die neue Bewegung des Pietismus von
hier aus in unser Land hinübergegriffen. Nicht freilich der kirchenfromme Spener—
sche Pietismus. Hier gab es nicht, wie in Hamburg, pietistische Geistliche, hier
war noch weit ins 18. Jahrhundert hinein das Ministerium schroff antipietistisch
eingestellt. Der Superintendent August Pfeiffer (10880-71098) war
einer der bedeutendsten und wirksamsten literarischen Bekämpfer Speners und
J. W. Petersens. Wohl aber gab es in Lübeck einen volkstümlichen
Pietismus, eine nicht unbedeutende spiritualistische Laienbewegung, die dem Mi—
nisterium viel zu schaffen machte. In Lübeck hatte Paul Felgenhauer gewirkt, auch
unseres Teting Schriften sind dort stark verbreitet gewesen, ja, auch ein kirchen—
feindliches Flugblatt Anna O. Hoyers „Gespräch eines Kindes mit seiner Mutter“
war von einem angesehenen Bürger, Henrich Ottendorff mit einem Eingangs—
*u) Dieser gewaltige Antipietist, der auch gegen Spener selber literarisch aufgetreten ist, hat
auch unserm Lande nahegestanden. Er gehörte nämlich von 1088 an bis 1701 der Kieler Uni—
»ersität als Prof. honorarius an. Zwar konnte er jährlich nur auf einige Tage oder Wochen
nach Kiel reisen, um in aller Eile ein kleines Kolleg zu halten oder zu disputieren. Aber auch
so konnte er hier in antipietistischem Sinne wirken, zumal er von König Christian V. sehr ge—
schätzt war. 1701 ging er als Prokanzler und GS für Schwedisch- Pommern nach Greifs
vald (f .1712).
ꝛ0) Begraben wurde er in der Steinbeker Kirche, wo ihm seine Hamburger Verehrer ein
großes Epitarh stifteten.
at) Vagl. dazu Lie bohdt, der Aufenthalt des Jean de Labadie in Altona (BuMel, Heft5,
S. 117 ff.).
2) Da es mit der Goldmacherei nicht recht vorwärts wollte und er mit der geistlichen Obrig
keit, dem Propsten Fleischer, einen Streit anfing, wurde er 1719 zu ewiger Gefangenschaft auf
Bornholm verurteilt. Dort hat er gesessen, bis er 1726 auf Fürbitte der Königin (Anna
Sophie Reventlov, der Schwester des Oberpräsidenten) frei kam(t 1734).