Auswirkungen der Reformation
ordnungen eine gewisse Organisation nicht gefehlt, nur war diese nicht parlamen⸗
tarisch, sondern rein obrigkeitlich; sie erfaste nicht das Kirchenvolk, sondern nur
den Klerus. Aber so ist ja auch die katholische Kirche organisiert, und niemand wird
sich weigern, sie als echte und rechte „Kirche“ zu bezeichnen. Sofern wir also die
Bezeichnung „Kirche“ als Ehrentitel gebrauchen und darunter verstehen eine
irdische Gemeinschaft, die sich um den Kyrios, den Herrn Christus und sein Wort
sammelt, dürfen spir sicher den altprotestantischen Kirchentümern diesen Ehrentitel
nicht ie nicht aus dem Grunde, daß sie „Staatskirchen“
waren. Denn der Staat, der in der Reformation die Kirche s. z. s. völlig in sich
aufsog, war ja nicht der moderne religionslose oder religiös neutrale, auch nicht der
der Aufklärung, der alles nur unter dem Gesichtspunkte der „Staatsraison“ be—
handelte, sondern der mittelalterliche Staat, der sich als ein Glied oder eine Ab—
teilung der „Christenheit“, der allgemeinen Kirche auf Erden wußte. Und das
Staatsoberhaupt war zugleich ein praecipuum membrum ecclesiae (der
allgemeinen Christenheit!) und wußte sich als solches verpflichtet, auch in der
Staatsleitung Gottes Gebot zu erfüllen und Christi Ehre zu vertreten. Solange
diese Auffassung herrscht — und sie hat das noch durch Jahrhunderte nach der
Reformation getan —, haben wir keine Ursache, die lutherischen „Stagtskirchen“
nicht als Kirchen im christlichen Ehrensinne zu werten und zu q)
6. Ein Problem unserer Reformationsgeschichte.
Auch bei uns haben volkstümliche Bewegungen nicht gefehlt. Auch in unserem
Lande haben lebendige Zeugen das neue Evangelium verkündet: Priester, Mönche
und werdende Priester, die in Wittenberg zu den Füßen des Reformators gesessen
hatten, haben hie und dort die neuen Gedanken ausgebreitet. Wir dürfen auch das
literarische Moment nicht vergessen: es gab, namentlich in den Städten, doch schon
viele, die lesen konnten, und die Hamburger „Buchführer“ werden die gut abzu—
—X
gewiß in manchen Städten sowie in den kultivierten Bauerngemeinden des Westens
ein frgier volkstümlicher Wille zu reformatorischen Taten lebendig
gey 9
die Hauptsache hat dann doch der für stliche Wille getan. Auf das
aͤnze gesehen spielten die meist kleinen und unbedeutenden Städte zahlenmäßig
und kulturell eine geringe Rolle: der weitaus grösite Teil der Bevölkerung sasß auf
dem Lande. Die Bauern aber im Norden, in der Mitte und im Osten waren jeden—
falls von der geistigen Kultur der Zeit noch wenig berührt, konnten in den seltensten
Ausnahmefällen lesen und waren sicher, wie die Bauern noch heute, zu durch—
greifenden Neuerungen wenig geneigt. Wir können in dieser Beziehung wegen
Mangels an Quellen keine Statistik aufmachen. Es darf m. E. jedoch als sicher
angenommen werden, daß in den wenigsten Bauerngemeinden von freien Zeugen
das neue Evangelium gepredigt worden ist: die Mehrzahl hat die Reformation als
obrigkeitlichen Befehl und Zwang hinnehmen müssen.
Und nun entsteht die Frage: Warum hat diese Mehrzahl sich die Neuerung so
ruhig gefallen lassen? Wie kommtes, daß die Reformationin
unserem Lande mit solcher ruhigen ee dti,
keitt, ohne große dramatische Momente auf Seiten, des Neuen, ohne wesentliche
Widerstand des Alten sich Vollzogenhat?
/Ganz unhaltbar ist die Vorstellung, die gewiß in manchen Reformationsfest-
predigten eine Rolle gespielt hat, daß unser Volk die neue evangelische