Schwartz gegen Muhlius, 1705
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Damit war der erste Abschnitt des grosien literarischen Kampfes zwischen Ortho—
dorie und Pietismus in unserm Lande beendet. Zehn Jahre lang hatte der Streit
gedauert, mit großer Heftigkeit war er gesührt worden. Es ist billig, sich heute
üüber diese Heftigkeit zu beklagen: sie entsprach doch insofern der Sache, als hier
zwei fatsächlich stark voneinander abweichende Auffassungen des Christentums auf
einander prallten. Beklagenswert ist nur, daß gerade bei dem in unserm Lande
geführten Streit die großen Gesichtspunkte fehlten, bei Schwartz insofern, als
er in seinem Eifer tatsächlich kleinlich wurde, bei den pietistischen Theologen inso
fern, als sie den Kampf in der übelsten persönlichen Form führten, statt frei und
grosi das Neue, das sie brachten, zu bekennen und zu verteidigen; die Art, wie
diese Theologen kämpften, erinnert an übelste theologische Gewohnheiten und zeugt
nicht von der ethischen Erneuerung des geistlichen Standes, welche doch der Pieus—
mus in erster Linie anzustreben verheisten hatte.
4. Der Kampf der GGSES. Dritter Gang, 1705 1700.
Noch ehe die Diskussion über den pietistischen Chiliasmus abgeschlossen war,
führte ein anderes Thema — die „wirkliche Seligkeit der Glän
bigen in diesem Leben — zu einem neuen gewalligen Kampfe. Die
Frage, um die es sich jetzt handelte, erscheint uns Heutigen vielleicht als eine ziem
lich nebensächliche, jedenfalls als eine, über welche nicht viel Streit möglich ist.
In der damaligen theolegischen Lage jedoch war sie nicht ohne prinzipiellen Wert:
in ihrer verschiedenen Veantwortung zeigte sich recht der Unterschied zwischen der
pietistischen und der orthodoren Frömmigkeit.
Schon Spener selber hatte“) gelehrt, dasi die wirkliche Seligkeit anfangen
der Weise den Gläubigen schon in diesem Leben gegeben werde, eine Lehre, welche
allerlei shwärmerischen Deutungen des gläubigen Christenlebens Tür und Tor
zu öffnen schien. Die im pietistischen Lager hervorgetretenen ungesunden Erschei
nungen (VBisionen, Offenbarungen, Ekstasen, Seligkeitsgefühl) hatten tatsächlich
gezeigt, welche Gefahren die Ueberhöhung des christlichen Lebensgefühls in sich barg—
Es war deshalb durchaus nicht gesucht, sondern entsprach ganz der gewissen.
haften Art, in welcher der Konigliche GS das religiöse und theologische Leben
in seinem Aufsichtsbezirke uberwachte, daß er den merkwürdigen Nachrichten, welche
aus der seiner Aufsicht unterstellten und als Regierungsstadt sonderlich wichtigen
königlichen Stadt Gehüsckstadit über eine daselbst von dem Kompastor Miko
(Helven l, *540). In gleicher Richtung wird unser Landemann Christian Seriver auf ihn ge
wirlt haben, mit welhhem er funf Jahre lang (1079 —-81) an der gleichen Kirche zu Magde
burg tatig war. Machdem er zwei Jahre lang als Pastor zu Stargard amtiert hatte, ward er
lohne Frage als Freund Speners) Propst an der Petrikirche in Coln an der Sopree (Berlin
uennd endlich 1704 Hofrrediger, Kensisterialrat und Prefessor in Kopenhagen (f 1712). Diese
Bernfung wird er der Königien Louise verdankt haben, welche durch Herkunst und Ver
wandtichaft mit den „erweckten“ Fursten- und Grafenhöfen in Deutschland — ihre Schwesser
Christina war mit Graf Christian zu Stolberg Gedern in der Wetterau verhbeiratet —— dem
Pietismus geneigt war. Als Kg. Friedrich IV. beschlosi, seinen heidnischen Untertauen das
Evangelium zu bringen, war einzig Lütkens der Mann, ihm dabei zu helsen: durch seine Ver
mittelung gelang es, die bekannten Halleschen Missionare Ziegenbalg und Plütschau nach
Trankebar zu schaffen (1705, vergl. Helveg a. a. O. S. 550).
) In seiner Schrift: „Von der Seligkeit der Kinder Gottes“. Er hatte sich hier auf
Stephb. Practorius (f l005) und Martin Statius (f 1055) bernfen, die von
„rechtschaffenen““ Theologen widerlegt worden waren und ihre Lehren zurückgenommen hatten—
Feddersen, Kirchengeschichte, V. II.