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§34. Die moralische Qualität der Geistlichen.
Nachdem wir die äumserr ein Lebensbedingungen des durch die Reformation neu
aufgerichteten ordo ecclesiasticus kennen gelernt haben, interessiert uns sonder—
lich die Frage nach seiner innerlichen Qualität. Wie haben die Geist—
lichen das hohe Amt, das ihnen gegeben war, ausgerichtet? Mit Eifer und Treue?
Schon das ist eine Frage nach ihrer moralischen Qualität. Es kommt aber noch
hinzu, daß bei keinem andern Stande so stark auf die persönliche sittliche Haltung
der Amtsträger gesehen wurde wie bei dem geistlichen. Mit Recht und mit Un—
recht. Mit Recht, insofern man von den „Dienern des Wortes“ verlangen konnte,
daß sie das Wort, das sie predigten, im Leben bewährten. Mit Unrecht, insofern
die „Laien“ von den Geistlichen vielfach eine andere, höhere sittliche Leistung ver
langten als von sich selber. Auf alle Fülle aber ist die sittliche Haltung der Geist
lichen sowohl für ihre Schätzung im allgemeinen Volksbewusitsein wie für ihre
Wirksamkeit innerhalb des Volkes von ungemeiner Bedeutung gewesen.
Wiesstand es während der Periode der Orthodoriemit
der moralischen Qualität der Geistlichkeit unseres Lan
des? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, da in dieser Zeit die Quellen
noch ziemlich spärlich fliesen und überhaupt in solchen allgemeinen Fragen Fehl—
urteile sehr leicht möglich sind. Mit aller Vorsicht und mit dem ernstesten Be—
streben, zu einem gerechten und objektiven Urteil zu gelangen, gehe ich an diese
Frage heran.
I. Das Urteil der „Pfaffenfeindin“ A. O. Hoyers.
Wenn wir über die moralische Qualität und das amtliche Verhalten der s. h.
Geistlichkeit im 17. Jahrhundert ein zutreffendes Urteil gewinnen wollen, dürfen
wir an dem Bilde, das A. O. Hoyers in ihren „Poéëmata“ (vergl. oben
S. 298 ff.) von der Geistlichkeit unseres Landes entwirft, nicht vorübergehen—
Zwar war diese hochbedeutende Frau sowohl durch ihre religiöse Richtung wie
durch besondere Lebenserfahrungen zu einer Pfaffenfeindin geworden. Wir haben
deshalb ihre Schilderungen von vornherein mit Vorsicht zu betrachten. Aber
andererseits ist es sicher, daß feindliche Augen oft schärfer sehen als freundliche,
und das Bild, das die Dichterin von den Geistlichen ihrer Zeit entwirft, ist so
lebensnah und anschaulich, daß man gerade bei ihr am wenigsten von einem all—
gemeinen, aus Theorie erwachsenen Urteil reden darf: was sie sagt, beruht sicher
auf zutreffender eigener Beobachtung. Es fragt sich nur, wie weit man ihr Bild
verallgemeinern darf. Auf alle Fälle sind ihre Schilderungen kultur- und literar—
historisch von größtem Werte. Und sie selber verwahrt sich gegen die Annahme,
daß sie die Landeskirche und die landeskirchliche Geistlichkeit aAlss solche an—
greifen und schlecht machen wolle. Sie betont ausdrücklich, daß sie die wahrhaft
fromme Minderheit unter den Pastoren durchaus anerkennt Poëmata S. 237):
Die Frommen meng ich nicht hirin
Darumb ich wohl entschüldigt bin:
Denn alle, die nach Christi sinn /
Einen Christlichen Wandel führen
Die Lebr mit ihrem leben zieren