Abschließendes Urteil über die moralische Qualität 435
solchen Leuten keine wahrhaft lebendige Kirche gebaut werden. Was aber mit die—
sem Durchschnitt gebaut werden konnte und tatsächlich gebaut worden ist, das ist
die orthodoxe Gesetzeskirche, in der die Lehre rein erhalten und dem
Kirchenvolke eine äusterliche Frömmigkeit und eine gesetzliche Sittlichkeit anerzogen
werden konnte).
Immierhin: die Reformation des geistlichen Standes, wie sie von der „leben⸗
digen Orthodoxie““ und dem Pietismus gefordert wurde, war, wie für die ganze
lutherische Kirche, so auch für unser Land eine dringende Notwendigkeit. Und diese
Reformation ist auch gekommen. Wenn der Pietismus auf der einen Seite das
geistliche Amt als solches in seinem Werte herabgesetzt hat, so hat er doch
ohne Frage die moralische Qualität der einzehnen Amtsträger gehoben
und innerhalb der landeskirchlichen Geistlichkeit einen neuen Geist der Gewissen—
haftigkeit und des Eifers um Gottes Reich erzeugt. Man hat von der unserer
Periode nachfolgenden Zeit, in der sich die fromme Orthodoxie mit dem Pietismus
zu einem segensreichen Bunde vereinigte, durchaus den Eindruck, dasi, wie groß
auch die Mängel waren und blieben, der Pastorenstand besser als vorher war und
deshalb auch besser als der frühere imstande war, das religiöse Leben der Ge—
meinden zu vertiefen und zu beleben.
5. Die Pastorenfamilie.
Die Aufhebung des priesterlichen Zölibats, welche die Reformation mit sich
brachte, hat den geistlichen Stand ohne Frage sittlich gehoben, insofern er von der
Versuchung zu außerehelichem Verkehr befreit wurde. Sie hat aber auch die sitt⸗
liche Forderung, die an den Stand gestellt wurde, erschwert. Denn der verheiratete
Priester hatte nicht nur wie sein katholischer Vorgänger auf seine eigene, per—
sönliche Lebenshaltung zu achten, sondern auch auf die seiner Familie. Nicht nur
eigene Mängel, sondern auch die Sünden seiner Familie waren geeignet, sein
Ansehen zu untergraben und seine Amtswirksamkeit zu erschweren. Er war daher
amtlich verpflichtet, auch mit Weib, Kind und Gesind der Gemeinde ein Vorbild
christlichen Wandels zu geben. Im allgemeinen scheint die Erziehungsaufgabe,
welche dem Geistlichen damit gestellt worden war, in unserm Lande recht gut ge⸗
lungen zu sein; wenigstens habe ich in dieser Beziehung nicht viel Klagen ge—
funden.
Vei der Neigung des weiblichen Geschlechts zu Putz und zierlicher Kleidung war es dem
pastoralen Hausherrn naturgemäß besonders schwer, selbst bei gutem Willen bei Frau, Töchtern
und Mägden allezeit „ehrbare“ Kleidunqg durchzusetzen. Schon der Reformator Husums, Her—
mann Tast, der seine bisherige Köchin Gardrut geheiratet hatte, mußte sich von seinem
kryptoanabaptistischen Kaplan Johann von Linden schelten lassen, daß seine Töchter sich zu
zierlich und modern kleideten. — Eine unartige „Pastorsche““ war die Gattin des Pastors
Plochius in Lo it (Angeln), von der Fabr. 1634 berichtet, daß sie, wenn sie in die Kirche
und an den Voigtischen Stuhl, mit allerhand „fremden Geberden“ und unpassenden Worten
„im Vorbeigehen sich vermerken lies“, um die Hardesvögtin zu ärgern. Der Pastor mußte
„mit handgegebener Treue versprechen, seine Frau an die Gebühr zu erinnern“. — Schlimmer
war es, wenn, was hin und wieder geschah, eine Pastorstochter in Fall kam. Eine traurige
jeschichte davon erzählt Fabr. 1039: Eine Tochter des alten Pastors in Grube hatte sich,
7) Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß das Resultat, zu dem ich für unser Land gelange,
durchaus übereinstimmt mit dem, das etwa Tholuck und Drews (der evang. Geistliche in der
deutschen Vergangenheit, 1905) für einen weiteren Kreis, nämlich das ganze lutherische Deutsch
land seststellen.