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VB. 2, K. 4, 8 37. Musik. Teil des Gottesdienstes
Lehrer der Vorrat an wirklich gesungenen Liedern größer geworden, so daß wir um
die Mitte des 17. Jahrhunderts auch auf dem platten Lande einen starken Fort—
schritt in der Liederauswahl konstatieren können )).
Wenn wir nun nach der Beteiligung der Gemeinde fragen, so
müssen wir leider feststellen, daß diese namentlich in manchen Landgemeinden sehr
zu wünschen übrig ließ. So berichtet Fabr. von Böel: „Das Frauenvolk singt
gar nicht in der Kirche, wie auch der kleinste Teil der Mannspersonen.“ Aehnlich
von Sieseby. Ebenso heißt es von Norby G(Rieseby):
„Das Mitsingen der Psalmen bleibet hie und anderswo bey Männern und Weibern
fast gar nach, unangesehen Pastor fleißig dazu ermahnet. Komt daher, daß sie nicht in die
Schule gegangen, auch daß sie in so vielen Jahren, da sie zur Kirche gegangen, niemals auf
die Psalmen ihre Gedanken gerichtet haben. Ist ja unverantwortlich. Müsite dem nach mit
ermahnungen fleißig angehalten werden, daß doch die Leute das mitsingen Gott zum Ehren und
ihnen selbst zum besten gewöhnet werden.“
Um das Mitsingen zu befördern, wurde fir Struxdorf verordnet, daß
der Küster während des Singens im Gange auf und nieder gehen solle (Fabr.);
in Rabenkirchen, wo gleichfalls die „Weibesbilder“ trotz der Ermah—
nungen des Pastors wie des Herrn Superintendenten den Mund nicht auftaten,
erbot sich 1631 der Pastor selber, in der Kirche auf und nieder zu gehen und
fleisig darauf zu achten. Und in der Tat fand sich schon 1033 bei der Visitation
eine gewisse Besserung (Fabr.).
Doch gab es auch Landgemeinden, wo um diese Zeit eine allgemeine Beteiligung
am Kirchengesang bereits erreicht war. So heißt es bei Fabr. 1039:
Man weiß exempla in J. F. G. Kirchen, da die gantze Gemeinden, Jung und Alt, Mann
und Weib fleistig mitsingen; ja, wenn das Chor den einen Vers im Psalm gesungen, sie als—
denn den andern Wers allein singen, also daß das Chor inmittelst gar stillschweigt.
Offenbar sind in diesem Punkte — und heute ist es ja nicht viel anders —
drei Dinge entscheidend gewesen: 1. die Bemühungen der Kirchendiener, 2. der
allgemeine Zustand der geistigen Kultur, 3. der Stand des religiösen Lebens der
Gemeinde. Wo es an allem fehlte — wie in manchen Gutsgemeinden —, be—
währte sich der alte Satz: Holsatia non cantat; wo es in diesen Beziehungen
gut stand, aber auch nur da, dürfen wir uns im 17. Jahrhundert einen schönen
vollen Gemeindegesang denken.
Je schwerer vielfach das Kirchenvolk zum Singen zu bringen war, desto nötiger
war die Mitwirkung eines Sängerchor s. Solche ist auch in der vorgeschrie—
benen Gottesdienstordnung vorausgesetzt.
Der Sängerchor hatte im Gottesdienst eine doppelte Aufgabe: 1. die Aus—
führung der Responsorien, 2. die Leitung des Gemeindegesangs. In den Städten,
—
der Marter alle; Christ fohr vp tho Hemmel; Kum, hillige Geist, Here Godt; Nu bidde wy
den hilligen Geist; Godt de Vader wahn vns by! Wy glöven all an einen Godt; Jesus
Christus vnse Heilandt; Christe, du Lamm Gades (Aßnus Dei); Vorlehne vns frede gnedich—
lick (Da pacem Domine); Midden wy ym leuen sindt, usw.
) Bezeichnend sind in dieser Beziehung die Lieder, welche der einstige Besitzer meines
Eremplars von Walthers Manuale den von Walther für jeden Sountag genannten Ge—
sängen handschriftlich hinzugefügt hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um den
Postor von Mordhackstedt. Aus dessen Eintragungen ergibt sich, daß ein grosier Teil
der von Walther dargebotenen Lieder in dieser einfachen Geestgemeinde wirklich gesungen
wurde. Ob solcher Fortschritt durch die um 1050 einsetzende Verhochdeutschung des Gottes—
dienstes gehemmt worden ist, läßt sich schwer feststellen.