B. 2, K. 4, 8 41. Liebestätigkeit
aber auch in der wirklichen Praxis die Sinn- und Zwecklosigkeit, welche die Liebes—
tätigkeit des Mittelalters vielfach an sich gehabt hatte. Man gab um zu geben,
um Opfer zu bringen, und achtete nicht darauf, daß man sozial geradezu Unheil
anrichtete, indem man dem Bettel Vorschub leistete und ihn zu einem gottgefälligen
Beruf machte. Demgegenüber ist in den evangelischen Kirchen die Liebestätigkeit
allmählich immer stärker rationalisiert, kommunalisiert, säkularisiert worden, eine
Entwickelung, die erst heute zum vollen Abschluß gekommen ist. Man muß den
Vätern unserer KO das Lob spenden, daß sie unter den mannigfaltigen
Stücken der kirchlichen Praxis, die sie ordnet, auch der Liebestätigkeit den ge—
dührenden Platz eingeräumt haben (S. 860 — 590). Es ist ihnen offenbar darum
u tun, daß die in katholischer Zeit verhältnismäßig reich ausgeübte christliche Mild—
tätigkeit in der neugeordneten Kirche nicht abnehme, sondern mindestens in dem—
selben Maße wie bisher ausgeübt werde. Deshalb werden die Prediger herzlich
und dringlich ermahnt, die Leute zu reichlichen Gaben für die Armen aufzufordern
und ihnen zu sagen, daß sie das, was sie bisher in guter, aber irriger Meinung
an „Messen, Mönche, für die abgeschiedenen Seelen, für Ablasi, Wallfahrt und
andere Irrtümer aufgewendet hätten, nun Gott und dem Herrn Jesu Christo in
den Armen“ geben möchten (S. 90).
Betr. die allgemeine (gemeindliche) Armenpflege wird S. 80 ver—
ordnet, daß alle für diesen Zweck „von alters her“ bestehenden Stiftungen dafür
erhalten bleiben, und auch, was sonst freiwillig gegeben und mit dem Klingbeutel
gesammelt wird, ausschlieslich den Armen zukommen soll. Zur Ausübung dieser
Armenpflege sollen allerorts zwei (bei Bedürfnis mehr) vernünftige, fromme Leute
als „Diaken“ (Diakone) bestellt werden, welche das Armengeld aufbewahren, mit
„der Armen Beutel“ (dem Klingelbeutel)!) umhergehen, die Einkünfte „getreulich
uind mildiglich“ den Armen nach eines jeglichen Bedürfnis austeilen und alle Jahr
im Beisein der Kirchendiener und der Obrigkeit Rechenschaft ablegen sollen.
Vor allem interessiert sich die KO für die sog. „HHospitale“, nicht in dem
Sinne, daß sie auf Neuerrichtung solcher Häuser dränge, sondern in dem, daß
solche, wo sie bestehen, unter allen Umständen erhalten bleiben sollen. Wir dürfen
annehmen, daß in den meisten Städten unseres Landes solche Hospitale, seien sie
don einem Kloster oder der Gemeinde unterhalten, bestanden haben, und zwar nicht
bloß als Krankenhäuser, sondern auch als Zufluchtsstätte für Sieche und arme
alte Leute, („Heilige-Geist-Häuser““), hier reichlich, dort nur dürftig mit testa—
mentarischen Stiftungen an Land und Kapital ausgestattet. Für erstere wird ge—
fordert, daß alle derartigen Stiftungen bei den Hospitalen erhalten werden sollen,
für letztere verheißt der König „von dem Seinen“, das heißt von etwa erledigten
Vikariaten, Klostergut und dergleichen, das Fehlende hinzuzulegen, denn auch er
kenne das Wort: was ihr getan habt dieser Geringsten einem, das babt ihr mir
getan.
Zwecks gute Verwaltungsolcher Hospitale wird verordnet, dasi
auch für sie „Diakonen“ oder „Versteher“ ernannt und für jedes Haus ein ehren—
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1) In einer Königlichen Verordnung von 1646 (CEAIIII, 531) heisit es, dañ in den Kirchen
auf oen Dör fern mit dem Klingelbeutel bisher nicht umgegangen sei, und verordnet, daß
auch solches nunmehr in Gang gebracht werden soll. Darnach wurde bis dahin auf dem Lande
nur durch Ausstellung von Becken kollektiert. Ich kann mir jedoch nicht denken, daß der Klingel—
beutel vorher auf dem Lande gänzlich unbekannt gewesen sei, da schon die K. O. von der „Armen
Beutel“ redet. In dieser Beziehung wären noch Einzelforschungen anzustellen.