514 B. 2, K. 5. Das Kirchenvolk und seine Erziehung
mit den leibeigenen Bauern über das harte Arbeitsjoch klagt, „das sie zu nichts
gutem kommen lasse“, oder Meiger in seinem Hexenbuch tadelt, daß die Eichelmast
in den Wäldern den armen Leuten entzogen wird. Aber von sozialen Gedanken
an eine Hebung des vierten Standes ist keine Rede. Daran hindert die von der
Kirche mit der ganzen Zeit geteilte Anschauung, daß die „Stände'““, so wie sie
nun einmal bestehen, göttliche Ordnung seien. Dasi der Edelmann über dem
Bürger, der Bürger und Bauer über dem Arbeiter steht, daß der eine viel hat,
der andere sich mit wenigem genügen lassen muß, das ist so selbstverständlich, daß
darüber gar nicht geredet wird. Ja, die Geistlichen fühlen sich selber als göttlich
beauftragte Hüter dieser Ordnung: Gehorsam gegen die Obrigkeit und damit gegen
die von der Obrigkeit gepflegte und beschützte Ordnung den Untertanen zu predigen
und selbst zu leisten ist eine ihrer vornehmsten Amtspflichten. Wer auf die Obrig—
keit schilt wie etwa Friedrich Breckling, der ist ein Revolutionär und eben als
solcher in der Landeskirche unmöglich. Die orthodore Kirche ist eine in jeder Be—
ziehung konservative Macht.
Zum Schluß noch ein Wort über das was wir Seelsorge nennen. Als
cura animarum war sie unsern Alten natürlich kein unbekannter Begriff. Die
Sorge für das Heil der Seelen der ihnen befohlenen „Zuhörer“ war letztlich ja
die vornehmste Pflicht, ja der Inbegriff des den „Priestern“ befohlenen Amtes.
Aber diese Seelsorge war eben amtliche Pflicht und vollzog sich innerhalb des
Mechanismus des geistlichen Amtes: indem der Pastor predigte, taufte, traute, be—
erdigte, arbeitete er zum Besten der ihm befohlenen Seelen. Wenn er das in
treuer und sorgfältiger Weise tat, war er ein guter Pastor. Was heute unter
„Seelsorge“ besonders verstanden wird, ein freiwilliges Aufsuchen der Ge—
meindeglieder in ihren Häusern zufreipersönlicher Einwirkung auf ihren
Seelenzustand, war noch unbekannt: derartiges hat erst der Pietismus aufge—
bracht '). Wer das als einen Mangel der damaligen Kirche empfindet, hat zu
bedenken, daß damals namentlich auf dem Lande der Pastor, wenn er auch als
Vorgesetzter galt, seinen Gemeindegliedern sozial näher stand als heute, daß er
noch mitten im Volke lebte un Gelegenheit zu freipersönlicher Einwirkung
auf seine Gemeindegenossen im reichsten Maße hatte. Davon werden auch die
wirklich frommen und guten Pastoren der orthodoxen Zeit, ohne Aufhebens davon
zu machen, Gebrauch gemacht haben. Daß unendlich viele nur ihre Amtspflichten
notdürftig verrichteten, sich aber sonst um das „Volk“ nicht kümmerten, ist ein
Fehler der Persönlichkeit, nicht des Amtes
5. Kapitel: Das Kirchenvolk und seine Erziehung.
Neben dem Lehramt und der Verwaltung der Zeremonien hatten die lutherischen
Kirchen noch eine dritte wichtige Aufgabe: die Erziehung des Kirchenvolks. Es
ist doch sehr milde ausgedrückt, wenn Melanchthon (im Examen Ordinandorum]
10) Eine amtliche Verfügung, betr. Hausbesuche finde ich einzig in der Kön. Constitution
von 10460, Punkt 3, nr. 5(ORIII, 251), wo es heißt: Die Prediger auf dem Lande (also
nicht in der Stadt!) müssen auch zuweilen domesticas Visitationes halten und ihre
Zuhörer jährlich zum wenigsten in ihren Häusern besuchen, dann dabey nach ihrem Leben und
Wandel, auch Kinderzucht fleißig inquiriren und nachforschen. — Doch wird auch diese
wohlgemeinte Anordnung Klotzens, wie so viele andere, zum größten Teile auf dem Papier ge⸗
blieben sein.