Erziehungsfaktoren
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von der Ecclesia visibilis sagt: Sunt tamen in eo coeëtu multi non sancti—.
Von der Una Sancta, welche letztlich doch auch für die reformatorischen Kirchen
die dogmatische, ideelle Grundlage des Kirchenbegriffs blieb, war die tatsächliche
Wirklichkeit so weit entfernt, daß man lutherischerseits bei der Beschreibung der
wahren Kirche das ethische Moment überhaupt nicht in Rechnung zu bringen
wagte, sondern sich daran genügen ließ, als ihre Signa lediglich die rechte Lehre
des Evangeliums und den rechten Gebrauch der Sakramente zu kennzeichnen
(Conf. Aug. Art. VII). Der Abstand der Wirklichkeit vom Ideal war freilich
bei einer Volkskirche nicht zu vermeiden. Aber die lutherische Kirche hätte sich als
Kirche verleugnet, wenn sie das einfach so hingenommen und nicht die Pflicht ver—
spürt hätte, diesen Abstand zu verringern. Wenn auch nicht mit derselben Kraft
wie die kalvinische — in ihrer Weise hat auch die lutherische Kirche an der Er—
ziehung des „rohen Haufens““, der das Kirchenvolk ausmachte, zu christlicher Fröm—
migkeit und Sittlichkeit gearbeitet.
Während bei der Lehre und den Zeremonien einzig der Klerus, das ministerium
ecclesiasticum tätig war, hatte bei der Erziehung des mit dem Staatsvolk
identischen Kirchenvolkes der zweite Status des Corpus christianum, der Ma-
gistratus politicus oder die christliche Obrigkeit mitzuwirken. Der dritte Status,
der domesticus (Bürger und Bauern) kam nur als Passivum, als Erziehungs—
objekt in Betracht.
Auch im Mittelalter hatte dieses Zusammenwirken von Staat und Kirche schon
bestanden. Aber die Hauptaufgabe war doch dem Klerus zugefallen. Die Obrig—
keit war unter dem Chaos konkurrierender Gewallen, welches den mittelalterlichen
Staat darstellte, zu ohnmächtig, um mehr als die gröbsten Verbrechen gegen die
Ordnung zu ahnden: die positive Erziehung des Volkes zu christlicher Sittlichkeit
blieb einzig dem Klerus vorbehalten. Kein Wunder deshalb, daß das sittliche Ideal
des Mittelalters einseitig kirchlich gefärbt war.
Durch die Reformation war der Staat von der kirchlichen Bevormundung frei,
ja zum Herrn der Kirche geworden. Die weitere Entwicklung geht deshalb dahin,
daß er langsam und allmählich einen Teil der Dienste, die bisher die Kirche dem
Volke geleistet hatte, ganz auf seine Schultern nimmt, so die Schule (im 19. Jahr⸗
hundert), die Fürsorge fir Arme und Kranke (im 20. Jahrhundert). Im Re—
formationsjahrhundert ist er gerade stark genug geworden, um ein Zusammen⸗
wirken mit der Kirche in der Erziehung des Volkes wenigstens zu beginnen. Als
dann im 17. Jahrhundert der Kampf mit den feudalen Mächten des Mittelalters
sich zu seinen Gunsten entscheidet und im absoluten Fürstentum die erste Vorstufe
des modernen, das ganze Volksleben umfassenden Staates erreicht ist, übernimmt
der Staat in der Erziehung des Volkes bereits die Führung, und die Kirche wird
in dieser Beziehung seine Dienerin. Die Folge ist, daß die erziehliche Macht der
Kirche immer weiter abnimmt und das sittliche Ideal sich immer weiter säkularisiert.
Diese Veränderung ist freilich, solange die Idee des Corpus christianum be—
stehen bleibt und die Obrigkeit im geoffenbarten Worte Gottes die Norm des ge—
samten Volkslebens erblickt, noch nicht so stark zu spüren. Erst im Rationalismus
des 18. Jahrhunderts kommt sie voll zur Auswirkung: statt des frommen und
gehorsamen, seine Seligkeit suchenden Christen wird der auf die irdische Wohlfahrt
gerichtete „Staatsbürger““ zum Erziehungsideal; die Religion rückt in die zweite
vinie, und die Kirche wird auf die Pflege des rein Religiösen beschränkt.
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