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man den Weg, den man eingeschlagen hatte, umgekehrt
gehen muß: daß man erst versuchen muß, bestimmte seelische
Eigenarten bei bestimmten Menschengruppen herauszufinden, um
dann die somatischen Merkmale, die man bei dieser selben
Gruppe beobachtet hat, in Parallele mit den seelischen Eigen-
arten zu stellen und so durch. konstante Vergleichung der beiden
Reihen vielleicht zu gesetzmäßigen Korrelatverhältnissen durch-
zudrimgen. Voraussetzung für die Anwendung dieses wissen-
schaftlich allein einwandfreien Verfahrens ist aber natürlich
eine wohlgegründete und wissenschaftlich gefestigte‘ Kollektiv-
psychologie.
Und diese sollte wirklich ein unlösbares Problem sein? Ich
glaube doch nicht. Wenn wir nämlich die Einwände, die gegen
sie erhoben werden, genau prüfen, so finden wir doch bald
heraus, daß sich alle Bedenken nur gegen eine fehlerhafte Ver-
wirklichung, nicht aber grundsätzlich gegen die Kollektivpsycho-
logie überhaupt richten. Ist hier auch nicht der Ort, in allen
Einzelheiten die Möglichkeit einer Kollektivpsychologie : nach-
zuweisen, so will ich doch zum besseren Verständnis dessen, was
ich über den besonderen Fall zu sagen habe, wenigstens einige
Hinweise geben, wie man etwa sich eine Wissenschaft der
Kollektivpsychologie zu denken hätte. ;
Was wir erfahren möchten, ist die seelische Eigenart einer
Gruppe von Menschen. Ich sprach deshalb von Kollektivpsycho-
logie im Gegensatz zur Individualpsychologie, aber auch zu dem,
was man” neuerdings als Sozialpsychologie bezeichnet, mit. der
die Kollektivpsychologie nicht zu verwechseln ist. Jene, die in
letzter Zeit eine Reihe beachtenswerter Bearbeitungen erfahren hat
(Eulenburg! Simmel! und doch ‚auch Wundt, trotz
seiner andern Terminologie), und die ihrer viel größeren Jugend
ungeachtet der wissenschaftlichen Reife viel näher steht als ihre
ältere Schwester, setzt sich ja zur Aufgabe, diejenigen seelischen
Erscheinungen festzustellen und zu analysieren, die aus der Tat-
sache der Vergesellschaftung ’sich ergeben; diese dagegen will
alle seelische Eigenart der Gruppe erfassen. Und es erhebt sich
nun.die erste gewichtige Frage: welchen Sinn es hat, von einer
Gruppe von Menschen bestimmte Seeleneigenschaften auszusagen.
Was es also bedeutet, wenn wir etwa urteilen: die Deutschen
sind gemütvoll; die Slawen sind musikalisch; das Proletariat ist