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rationalistisch; die Großstädter sind ..., die Germanen sind ...,
die Professoren sind ... ., die Juden sind . .. usw. Wir müssen
uns ja immer dem Einwande aussetzen, den unser guter Freund
gegen eine solche Feststellung erhebt, der nämlich behauptet:
seine verstorbene Tante oder der Kanzleirat Müller nebenan oder
sonst noch wer seien „ganz anders‘“ gewesen, als wir von der
Gruppe ausgesagt hätten, der sie angehörten. Und unser Freund
kannte alle diese Leute sehr gut und hat gewiß ‘recht. $
Wie also?
Die älteren Vertreter der „Völkerpsychologie‘‘ wußten sich
leicht zu helfen. Sie beschränkten ihre Untersuchungen zumeist
auf die Völker (oder was ihrer Ansicht nach dazu gehörte), und
diese Völker statteten sie mit einer besonderen Seele aus, die
sie auch „Volksseele‘‘ nannten, und von der nun nalürlich ebenso
wie von einer Individualseele alle Eigenschaften ausgesagt werden
konnten. Diese geheimnisvolle Volksseele taucht heute noch
unter dem Namen „psychisches Diapason‘“ auf und schwebt den
meisten „Völkerpsychologen‘““ unserer Tage vor, wenn sie (wie
etwa der geistvolle Leroy-Beaulieu) bei einer Analyse der
jüdischen Eigenart 499; ‚le juif et la race .juive‘, „lVoriginalite
nationale et les faculles individuelles‘‘, ,,Israel en tant que peuple
et le juif en tant qu'individu‘ in einen Gegensatz zueinander
stellen.
Wir wollen zunächst diesen Zweig der Psychologie nicht auf
„die Völker‘ beschränkt sehen, sondern wollen jede beliebige
Gruppe von Menschen auf ihren seelischen Zustand untersuchen:
daher Kollektivpsychologie (besser als Massenpsychologie, die viel-
mehr einen besonderen Zweig: der Sozialpsychologie bildet) statt
Völkerpsychologie.
Uns ’mutet aber auch alle „Volksseele‘‘ mystisch an. Sie
erscheint uns als ein trügerisches Nebelgebilde, von dem, wenn
wir es durchleuchten, nichts übrig bleibt, das jedenfalls keine
irgendwelche Realität ist, sondern höchstens in unserer Vor-
stellungswelt als Hilfsmittel des Denkens seinen Platz hat.
Die einzigen Realitäten sind vielmehr die lebendigen Menschen,
die die Gruppe bilden (oder auch: gebildet haben und —. unter
bestimmten Voraussetzungen — bilden werden). Man könnte
daran denken, neben ihnen noch eine zweite Realität anzunehmen:
die in irgendwelcher Stofflichkeit verkörperten Werke jener Einzel-