CHARLOTTE CORDAY
Während Paris, Frankreich, die Führer und die Armeen der Parteien die Republik zu
zerreißen trachteten, zog der Schatten eines großen Gedankens durch die Seele eines Mäd-
chens, verwirrte die Ereignisse und die Menschen und warf den Arm und das Leben eines
Weibes dem Revolutionsschicksal entgegen. Die Vorsehung, möchte man glauben, wollte
durch diese schwache Hand das große Werk verspotten und gefalle sich, zwei Fanatismen,
Leib an Leib kämpfend, einander entgegenzusetzen: den einen unter den häßlichen Zügen
der Volksrache in Marat, den andern unter der Himmelsschönheit der Vaterlandsliebe
in einer Jeanne d’Arc der Freiheit. Der eine wie die andere doch kamen in der Verwirrung
zu dem gleichen Akt: dem Mord, und so gleichen sie sich zu ihrem Unglück in den Augen
der Nachwelt: nicht in ihren Zwecken, sondern in dem Mittel; nicht im Gesicht, sondern
in der Hand; nicht in der Seele, sondern durch das Blut! — In einer breiten und volk-
reichen Straße, die die Stadt Caen, die Hauptstadt der Normandie und damals den Mittel-
punkt des girondistischen Aufstandes, durchzieht, sah man im Hintergrunde eines Hofes
ein altertümliches Haus mit grauen, vom Regen verblaßten und von der Zeit beschädigten
Wänden. Hier lebte im Anfang des Jahres 1793 eine Enkelin des großen französischen
Tragikers Pierre Corneille, Tochter des Francois de Corday d’Armont, eines Provinz-
edelmannes, der durch seine Armut fast zum Bauer geworden war. Charlotte Corday war
von hohem Wuchs der großen und schlanken Frauen der Normandie. Natürliche Anmut
and Würde begleiteten wie ein innerer Rhythmus Gang und Bewegung. Ihre Haut zeigte
die Glut des Südens und doch auch die Färbung der nordischen Frauen. Ihre Haare schienen
schwarz, wenn sie um den Kopf sich legten oder in Locken über die Schläfen fielen, und an
den Enden golden. Ihre großen Augen wechselten die Farbe wie das Wasser des Meeres;
sie waren blau, wenn sie nachdachte, und fast schwarz, wenn sie erregte wurde. Lange
Wimpern, schwärzer noch als die Haare, gaben ihrem Blick die Ferne. Ihre Nase, die in
anmerklicher Krümmung in die Stirne überging, zeigte in der Mitte eine kleine Verbrei-
‚erung. Der griechische Mund zeichnete deutlich die Lippen. Das vorstehende, durch ein
starkes Grübchen’geteilte Kinn gab der unteren Partie ihres Gesichts einen Ausdruck männ-
licher Entschlossenheit, der mit der Anmut der weiblichen Konturen kontrastierte. Ihre
Wangen hatten die Frische der Jugend und das kräftige Oval der Gesundheit. Ihre Arme
waren muskulös, die Hände lang, die Finger dünn. — Das Erscheinen der geächteten und
Hüchtigen Deputierten im Calvados, wo sie an die Freiheit gegen die Unterdrückung appel-
lierten, steigerte die Anhänglichkeit der Stadt Caen an die Girondisten und die Verwün-
schungen gegen Marat. Der Name Marat wurde der Name des Verbrechens. Die mehr
englischen als romanischen Ansichten, der attische und gemäßigte Republikanismus der
77%