Full text: Mädchen und Frauen in Pindars Dichtung

Kyrene die Männergleiche 
(Od. 19, 255) gering zu schätzen. Denn daß Pindar sich auf die 
Seite seiner Kyrene stellt, bezeugt jedes der begeisterten Worte. 
Mit ehernen Waffen und mit dem Schwert gibt sich seine Heldin 
ab. Die gleichen Waffen führt sie wie ihre männlichen Gegenbilder 
lason (P. 4, 79) und Achilleus (N. 3, 45), die ebenfalls beim ersten 
Auftreten durch diese Beigaben charakterisiert werden. Um den 
Rindern des Vaters Ruhe zu sichern, erlegt die amazonenhafte 
Jungfrau wilde Tiere, was eigentlich Männersache ist. Den Schlaf 
kann sie dabei fast ganz entbehren (V. 25)%). 
Hatte Pindar in dem vorhin übergangenen Teil des Gedichts, 
wo es mehr um die weibliche Natur der Kyrene als der Geliebten 
Apollons ging, die Jungfrau nur sanft anzutasten gewagt — &gd- 
xzreodar xeol xoigpa (V. 11) könnte man auch von Pindars Art der 
Darstellung in den ersten 13 Versen sagen — so ergreift er sie jetzt 
und stellt sie in den Mittelpunkt der Betrachtung, wo es gilt, das 
Jungenhafte an dem Mädchen herauszustellen. Plastisch steht sie 
vor uns, wie die Vatikanische Wettläuferin?), deren Original in die 
gleiche Zeit gehört wie Pindars Gedicht, jugendlich, sehnig, von der 
Schönheit des strengen Stils. Ein Charakter ist diese Kyrene, die 
anders ist als ihre Gespielinnen, und individueller erscheint sie uns 
als die homerischen Frauen, nicht nur, weil sie allem konventio- 
nellen Sprachflitter enthoben ist, sondern auch wegen ihrer großen 
Tat, die gleich geschildert wird. 
Die kernigen Worte 20—25 drängen geradezu nach der äoıorela, 
die V. 26 einsetzt und die vollen Akkorde von Kraft und Heldentum 
zum Klingen bringt. Ein Momentbild aus dem mannhaften Leben 
der Jägerin wird dargeboten: Einst ward sie von Apollon gesehen, 
mit einem gewaltigen Löwen ringend, ganz allein, ohne Waffen, 
Die Einsamkeit steigert den heroischen Gehalt der Situation. Eine 
lebensvolle Kyrene ersteht vor unseren Augen. Der entscheidende 
Moment in dem Geschehen ist erfaßt; es wird nicht vorbereitend 
erzählt, wie es zu dem Kampfe kam. Dabei ist wieder das Fehlen 
von Beiwortschmuck bemerkenswert. Diese Gestalt bedarf nicht 
der Ausschmückung durch die üblichen Lobesworte: sie erscheint 
uns allein durch ihr Handeln groß. Apollon trifft unversehens auf 
!) Vgl. Schiller, Jungfrau von Orleans V. 81ff.: „Sie flieht der 
Schwestern fröhliche Gemeinschaft, Die öden Berge sucht sie auf, ver- 
lässet Ihr nächtlich Lager vor dem Hahnenruf.‘“ Vgl. zum Folgenden 
ebenda V. 197ff. 
2) Rodenwaldt, Kunst der Antike Taf. 12.
	        
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