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2, Weissagung
Noch einmal hat Pindar eine sterbliche Jungfrau die Beschlüsse
des Schicksals kundtun lassen. In einem Bruchstück des achten
Paian (a) sind uns Worte der Kassandra erhalten. Der Dichter
leitet sie folgendermaßen ein:
onEddovT”, ExlayEev F iep[äc #doas
Öayydviov xEaQ Öloaioı otTOovayalc Ämap,
xal toLdde x0ogvpd oduawve Adywvr.
Das von dem vorausgehenden Satze übriggebliebene oxedöovt” hat
man wohl richtig auf Paris bezogen. Er fährt von Troia nach
Griechenland zu dem für seine Heimat so folgenschweren Unter-
nehmen ab?). Dabei erhebt Kassandra, von Ahnungen erfüllt, ihre
Stimme, „Des heiligen Mädchens?) göttliches Herz ertönte in un-
heilvollem Stöhnen und sprach in Andeutungen, Der Hauptinhalt
ihrer Worte war dies.‘ Die Situation ist in dem erhaltenen Fragment
nicht geschildert. Sie wird im verlorenen Teil ebenso wie in der
schon besprochenen Prophezeiungsszene nur knapp angedeutet ge-
wesen sein. Wieder weist ein Mädchen die Zukunft. Medeia brachte
frohe Botschaft, Kassandra sieht das Unheil über ihre Stadt herein-
brechen und verkündet es, vermutlich wie jene, anderen Menschen,
ihren Mitbürgern, wenn ihre Worte auch formell in das feierliche
Gewand eines Gebetes an Zeus gekleidet sind.
Die tragische Stimmung läßt den Dichter zu noch weihevolleren
Worten greifen als in P. 4. Die Prophezeiende selbst wird „heilig“
genannt. Sie steht in engem Verhältnis zu ihrem Gotte Apollon,
was Vielleicht auch der Grund ist, sie in einem Paian prophezeien
zu lassen, da diese Liedform dem Apollon zugehört (vgl. S. 103, 1).
Die Seherin erhält hier das gleiche Epitheton wie P. 11, 9 Themis,
die Göttin der Weissagung (vgl. S. 34f.)%. Aber nicht sie selbst
ist es, die prophetische Worte vernehmen läßt, sondern — Pindars
Kunst geht noch weiter — ihr göttliches Herz. x£ap ist bei Pindar
gegenüber dem gleichsam profanen xapöla durch seltenen und ge-
wählten Gebrauch geadelt. Das Herz wird Sayudviov genannt.
Dies Epitheton, bei Homer stark verblaßt bis zur abgegriffenen
Anredefloskel, wird von Pindar zu neuem Leben erweckt. Fast
+) Vgl. Proklos Chrest, S. 234, 9ff. Westphal; Robert, Hermes 49,
Roberts Ergänzung ist als die wahrscheinlichste von Schroeder und
auch von Bowra (Pindari carmina 1935) aufgenommen.
3) Auch onualvemw wird häufig von dem Orakel gebenden Gotte ge-
sagt, z. B. Heraklit Fr. 93 Diels ö ävya&, 06 TO uayTEIdV EotL TO &v Aelgolc,
oÜre Adyeı odre xoUnTtEL, AA OnNLALvVEL.