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2. Weissagung
Beschrieben, körperlich vor Augen gestellt wird uns hier Athene
ebensowenig wie Medeia, Kassandra oder Themis. Sie erhält nur
das eine Epitheton xvdvaıyıs (V. 70). Die sich steigernden Bezeich-
nungen bringen dagegen eindrucksvoll ihre geistige Macht zum
Ausdruck. Nicht zuletzt gibt der Reflex ihrer Erscheinung einen
wertvollen Beitrag zu ihrer Charakteristerung. Der auffahrende,
den glücklichen Fund machende und bewegt einen Menschen
suchende Bellerophontes läßt uns im Hintergrunde die hohe Ge-
stalt der schützenden Göttin erkennen. Diese Erscheinung der
Athene ist nur bei Pindar belegt. Wahrscheinlich war der Mythos
der lepog Adyoc des Heiligtums der Athene Chalinitis in Korinth,
und vielleicht muß man auch eine literarische Vorlage annehmen
(vgl. Wilamowitz 374). Doch scheint mir die Vision weitgehend
Pindars Eigentum zu sein. Sie schließt sich gut den betrachteten
Prophezeiungen aus Frauenmund an.
Wenn man die fünf oder sechs besprochenen Weissagungsszenen
nebeneinander hält, so ergibt sich, daß es Pindar immer darum zu
tun ist, die weihevolle Stimmung des großen Augenblicks in dem
Hörer lebendig werden zu lassen. Er erreicht das einmal dadurch,
daß er die Verkündenden in wörtlicher Rede sprechen läßt und so
die Zuhörerschaft einladet, Zeuge zu sein, weiter durch feierliche
Worte, mit denen er die Sprechenden einführt. Eine körperliche
Vorstellung gewinnen wir nie von den Prophezeienden: sinnliche
Epitheta sind selten. Dafür wird ihr Ethos charakterisiert, und zwar
ist das mehr bei den Sterblichen, Medeia und Kassandra, der Fall
als bei den Göttinnen, die schon an sich mehr veuwvötNS besitzen
als jene. Die weissagenden Menschenkinder werden durch erhöhende
Epitheta (‚„‚heilig, unsterblich‘‘) den Göttinnen angenähert. Der Ort,
wo die Weissagung vonstatten geht, wird meist unklar gelassen.
Die Personen, an die sich die Ansprache richtet, sind, wo wir über-
haupt etwas von ihnen erfahren, Männer. Dreimal enthält die Ver-
kündung ermutigende Aufforderung zu Kampf oder großen Taten.
Alle Beispiele zeigen, daß Pindar solche Weissagungen mit einer
gewissen Vorliebe wiedergibt. Wie er im Fr. 70a ein Bild von der
wilden Ausgelassenheit des olympischen Dionysosfestes entwerfen
kann und daneben im ersten pythischen Gedicht ein Gemälde voll
Ausgeglichenheit und apollinischer Ruhe, so vermag er mit gleicher
Kunst eine ringende Kyrene und Alkmene neben’ den statischen
Gestalten der prophezeienden Frauen zu vergegenwärtigen.