Full text: Das neue Europa: der slavische Standpunkt

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Ende des 18. Jahrhunderts datieren wir die Wiedergeburt der 
Tschechen und Slowaken, als organisches Glied der Wiedergeburt 
aller europäischen Völker. Trotz der beständigen Kämpfe gegen 
die treubrüchige, von den Magyaren unterstützte Dynastie ist 
heute das tschechische Volk eines der kulturell und wirtschaftlich 
fortgeschrittensten. Es hat derart durch die Tat bewiesen, daß, 
es lebensfähig ist und die Energie besitzt, dem Ansturm des 
imperialistischen Deutschland und Österreich zu widerstehen, denn 
zu dieser hohen Stufe der Bildung haben sich die Tschechen, und 
es wurde dies schon hervorgehoben, aus eigener Kraft, empor 
geschwungen, ohne wohlwollende Hilfe der Dynastie und Öster 
reichs. 
Soweit also die Kultur ein Anrecht auf politische Selbständig 
keit gibt (die Verwaltung des Staates ist bei einem entsprechenden 
Bildungsgrade der Bewohner leichter durchzuführen, insbesondere 
auch eine demokratische Verwaltung), so können sich die Tsche 
chen und Slowaken auf dieses Argument mit vollem Recht be 
rufen, denn sie sind nicht weniger gebildet als ihre Bedrücker, 
die Deutschen und die Magyaren!). 
48a. Der tschechoslowakische Staat wird ein Territorium 
besitzen, welches etwa viermal so groß sein wird als Belgien, seine 
Bevölkerung wird ungefähr 13 Millionen betragen; in dieser Zahl 
sind die deutschen, polnischen, ruthenischen und magyarischen 
Minderheiten mitinbegriffen, deren Gesamtzahl an 4 Millionen 
reichen wird. 
Obwohl wir Verfechter des Nationalitätenprinzips sind, wollen 
wir trotzdem unsere Minderheiten beibehalten, insbesondere auch' 
die deutschen. Dies scheint ein Paradox zu sein, aber wir wollen 
sie gerade auf Grund des Nationalitätenprinzips beibehalten. 
Böhmen ist ein besonderer Fall eines nationalgemischten Landes. 
Zwischen den Italienern z. B. und den Deutschen ist die ethno 
graphische Grenze einfach, scharf umschrieben. In Böhmen sind 
die Verhältnisse anders; an vielen Stellen und in allen Städten 
gibt es starke tschechische Minderheiten. Die Deutschen wenden 
ein, daß die tschechischen Minoritäten in Nordböhmen usw. 
„bloß“ Arbeitervolk sind, Leute, die von den Deutschen ihr Brot 
empfangen — dieses antisoziale Argument ist aber völlig un- 
J ) Auch nach der offiziellen Statistik gibt es bei den Tschechen 
weniger Analphabeten als bei den Deutschen.
	        
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