Full text: Das neue Europa: der slavische Standpunkt

121. 
Die Militaristen wenden ein, es sei schwer zu entscheiden, 
ob 1 jemand einen Verteidigungs- oder einen Angriffskrieg führt; 
die Historiker hätten dies nicht einmal von Kriegen längst ent 
schwundener Zeiten festzustellen vermocht, geschweige denn vom 
gegenwärtigen Kriege. Jeder Krieg ist unsittlich, räumen die 
preußischen Jesuiten im Soldatenrock ein, und eben darum soll 
man in der Frage die Moral beiseite lassen. Eine völlig falsche 
Behauptung; daß die preußischen Historiker und überhaupt die 
Historiker in Ländern, wo es kerne politische Freiheit gibt, die 
Streitfragen nicht zu lösen vermögen, ist wahr und ebenso wahr 
ist es, daß es Historiker gibt, die es überhaupt nicht imstande sind. 
Aber urteilsfähige, freie, an wissenschaftliche Genauigkeit gewöhnte 
Menschen vermögen die unterscheidenden Merkmale der Ver 
teidigung und des Angriffes hinlänglich sachlich festzustellen. 
Dies gilt auch von diesem Kriege. / 
Manche Pazifisten werten den Krieg unrichtig. Der Krieg 
ist ein Übel und ein sehr großes Übel, aber — wenn man den 
Enderfolg und den Verlust an Leben und Gesundheit in Anschlag 
bringt, ist er nicht das größte Übel. Der Alkoholismus z. B. 
heischt nicht weniger Opfer als der Krieg; die Folgen der Lues, 
der Unvorsichtigkeit bei der Fabriksarbeit und anderswo, fügen 
in summa nicht weniger Unglück den Einzelnen wie der Ge 
sellschaft zu; die ungeheure Zahl der Selbstmorde in allen Staaten 
(in Europa jährlich an 100.000) beweist klar, daß der Krieg nicht 
das ärgste und sicherlich nicht das einzige Übel ist. Ein ehrloses 
Leben, ein Leben in Knechtschaft ist ein ärgeres Übel. 
Auch gibt es einen Unterschied zwischen Kriegführen und 
Kriegführen — der Baschi-Bosuk führt auch Krieg, aber es gibt 
auch einen Krieg nach den Bestimmungen der Genfer Konvention. 
Die Deutschen und die Österreicher haben sidh an diese Kon 
vention nicht gehalten und manche inhumane. Arten von Angriff 
eingeführt; man kann diese Maßnahmen nicht barbarisch nennen, 
da sie wohldurchdacht und ein Ergebnis der Abschreckungs 
theorie sind, die ein deutscher Offizier in dem Satze zusammen 
gefaßt hat, er werde im Feindesland zehntausend Kinder töten, 
wenn er dadurch einen einzigen Soldaten retten könne. 
Die preußische Kriegsphilosophie ist ein Produkt des Mi 
litarismus. Der Militarismus ist das eigentliche Übel, an das 
man denkt, wenn vom Kriege die Rede ist. Der Militarismus ist 
die Mathematik der Angriffslust, der kriegerische Geist, in ein
	        
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