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und Nationalität als Ziel gesellschaftlichen Strebens anzusehen,
den Staat als Mittel; de facto strebt jede bewußte Volksgemein
schaft ihren eigenen Staat an.
Das Prinzip der Nationalität ist verhältnismäßig neu, wenig
stabilisiert, während der Staat eine sehr alte und eine so all
gemeine Einrichtung ist, daß schon darum der Staat vielen das
Notwendigste, für die Menschheit Wertvollste zu -sein scheint.
Ich habe bereits auf den Unterschied in der politischen
Organisation Europas im Westen und Osten aufmerksam gemacht;
neben dem einen russischen Staate haben wir im Westen viele
Staaten. Es gibt in Europa 27 Staaten (die deutschen Staaten
— 26 — werden dabei nicht gezählt, Österreich-Ungarn wird als
ein Staat genommen). An Nationen gibt es in Europa mehr als
doppelt soviel als Staaten; die Ethnographen und Linguisten
stimmen in der Bestimmung der Zahl besonderer Nationen nicht
überein. So z. B. werden von den Finnen die Karelier unter
schieden, oder man spricht von Finno-Kareliern; die Letten ver
binden die Einen mit den Litauern, Andere wiederum scheiden
beide strenge voneinander; die Kaschuben werden als ein von
den Polen verschiedenes Volk angesehen, ebenso werden die
Ukrainer von den Russen auseinander gehalten, usw. Die
Probleme sind nicht genug geklärt und darum gibt es keine ein
heitliche Statistik, man kann nur annähernd sagen, daß es in
Europa 70 Völker und Sprachen (nicht Dialekte) gebe.
Dieses Mißverhältnis zwischen den Staaten und Nationen
besagt, daß es viele nationalgemischte Staaten gibt; in der Tat
gibt es rein nationale, von einem einzigen Volke gebildete Staaten
nahezu garnicht, nur die kleinsten Staaten sind Nationalstaaten:
Andora, San-Marino, Monaco, Liechtenstein, Luxemburg, Däne
mark, (Portugal? Holland?).
Alle größeren Staaten sind gemischt, je größer, desto ge
mischter, kann man sagen. Klassifiziert man die Gemischtheit
nach der Anzahl der Völker, so sind Deutschland (Preußen)
Österreich-Ungarn, Rußland und die Türkei am gemischtesten.
Die Gemischtheit nimmt in der Richtung von Westen nach dem
Osten zu.
Dieses Mißverhältnis von Staat und Volk und die Tatsache,
daß die Völker in den gemischten Staaten ihre Unabhängigkeit
anstreben, weist darauf hin, daß die Staaten in älterer Zeit und