Full text: Das neue Europa: der slavische Standpunkt

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Verdienste der Staatsverwaltung zuführen. Nicht alle Länder sind 
gleich rein und ergiebig, nicht gleich vorteilhaft geographisch 
gelegen und haben nicht gleich gute Nachbarn; es ist natürlich, 
daß Staaten und Völker, die klein und ärmer sind (infolge der 
naturgegebenen Bedingungen oder der Stufe der wirtschaftlichen 
und kulturellen Entwicklung), ihren Angehörigen nicht alle Vor 
teile verschaffen können, welche den Bürgern reicherer und 
größerer Staaten zuteil werden. Wo aber steht es geschrieben, 
daß alle Nationen gleich reich und überhaupt gleich sein müssen? 
Eine kleine Nation kann alle ihre Arbeit intensiv verrichten 
und kann derart in einem gewissen Grade ihre mindere Zahl 
wettmachen; eine große Nation entfaltet ihre Gesamttätigkeit 
mehr extensiv. Das Verhältnis ist ähnlich wie beim Besitzer 
einer kleinen Hube und einem Großgrundbesitzer. Darum streben 
in großen Staaten einzelne Teile verschiedene Formen der Auto 
nomie gegen die Zentralisation an. 
Die Gegner kleiner Nationen und Staaten suchen zu beweisen, 
daß kleine Staaten nicht gedeihen, und dies nicht bloß wirt 
schaftlich und militärisch, sondern auch kulturell —• als ob ein 
kleiner Staat gewissermaßen auch kleine und rückständige Ge 
danken und Ziele hätte. Will man diese Streitfrage einer 
richtigen Lösung zuführen, so müssen zuerst die in Betracht 
kommenden Tatsachen aufs Genaueste festgestellt und die Be 
griffe geklärt werden. Ich will das Beispiel Böhmen anführen: 
ein Volk, viel kleiner als die Deutschen (gegenwärtig ist das 
Verhältnis etwa 10:80) hat es vermocht, dem starken deutschen 
Andrang durch Jahrhunderte bis zum heutigen Tage Widerstand 
zu leisten, auch dann, als die westlicheren und nördlicheren 
Slaven schon germanisiert waren; politisch nahmen die Tschechen 
eine wichtige Stellung in der Reihe der Nationen ein und be 
trieben zu Zeiten auch eine imperialistische Politik, indem sie 
sich Wien und Brandenburg mitsamt der Gegend, wo heute 
Berlin steht, unterjochten. Kulturell ragte Böhmen schon im 
14. Jahrhundert hervor, und es waren gerade die Tschechen, 
welche als Volk zuerst die Autorität der mittelalterlichen 
Theokratie brachen und mit ihrer Reformation die neue Zeit 
inaugurierten. Die Namen Zizkas, Hussens, Chelcickys und Ko- 
menskys gehören zu den größten der Menschheit. Durch die 
geeinigte Macht von ganz Europa gebrochen, rafften sich die 
Tschechen nach zweihundertjährigem Vegetieren an der Wende
	        
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