Full text: Das neue Europa: der slavische Standpunkt

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ist, als das untergebene Volk. Die größten polnischen Dichter 
haben die stetige revolutionäre Stimmung der unterdrückten, 
ihres Wertes sich bewußten Nation sehr wirkungsvoll analysiert; 
Mickiewicz hat diese Stimmung in den Worten zusammengefaßt: 
Die einzige Waffe des Unfreien ist der Verrat. 
Die gewaltsame Unterdrückung, die Entnationalisierung und 
Umnationalisierung in allen gemischten Staaten ist ein ungeheurer 
Energieverlust und eine Herabdrückung des moralischen Niveaus; 
auch die herrschende, die unterdrückende Nation schädigt sich 
dadurch, daß sie Gewalt übt und dadurch, daß sie keineswegs 
die besten Charaktere der unterdrückten Nation aufnimmt. Der 
ungarische Staat mit seiner gewaltsamen Magyarisation ist für 
den Kenner ein abschreckendes Beispiel entnationalisierender 
Charakterlosigkeit. 
Die politische Selbständigkeit wird allerdings immer mehr 
zu etwas Relativem, dies ist aber kein Argument gegen das Streben 
der unterdrückten Nation nach Selbständigkeit. Die ehemalige 
Souveränität der absolutistischen Staaten geht durch die wachsende 
Zwischenstaatlichkeit und Intemationalität verloren; diese Sou 
veränität war in hohem Grade durch die Abgeschlossenheit be 
dingt. Die zeitgenössischen politischen Bündnisse (der Dreibund 
z. B.) bedeuten ebenfalls eine merkliche Schwächung der ehe 
maligen Souveränität. 
Man kann ohne weiteres zugeben, daß die kleinen Nationen 
unter dem Drucke ihrer großen Nachbarn stehen; — ein Beispiel: 
das Verhältnis Österreich-Ungarns zu den Balkanstaaten. Es ist 
deshalb schon öfters gesagt worden, daß es für die kleinen 
Staaten und Natioen besser wäre, direkt ein Teil des feindlichen, 
großen Staates zu sein. Serbien — so sagen seine Widersacher 
— würde, an Österreich-Ungarn angegliedert, die Jugoslaven ver 
mehren und einigen und derart seinem Feinde nachhaltigeren 
Widerstand leisten, denn als selbständiges Serbien. 
Diese und ähnliche Überlegungen entspringen der macchia- 
vellistischen Politik von heute. Die Entwicklung Europas und der 
Menschheit strebt der Demokratisierung zu, das heißt zur Hu 
manisierung der zwischenstaatlichen und internationalen Ver 
hältnisse; die Politik wird aufhören, der Tummelplatz macchia- 
vellistischer Umtriebe zu sein, die nationale Selbständigkeit und 
Eigenart wird sich ungestört bei zunehmender Internationalität 
entwickeln.
	        
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