50
ist, als das untergebene Volk. Die größten polnischen Dichter
haben die stetige revolutionäre Stimmung der unterdrückten,
ihres Wertes sich bewußten Nation sehr wirkungsvoll analysiert;
Mickiewicz hat diese Stimmung in den Worten zusammengefaßt:
Die einzige Waffe des Unfreien ist der Verrat.
Die gewaltsame Unterdrückung, die Entnationalisierung und
Umnationalisierung in allen gemischten Staaten ist ein ungeheurer
Energieverlust und eine Herabdrückung des moralischen Niveaus;
auch die herrschende, die unterdrückende Nation schädigt sich
dadurch, daß sie Gewalt übt und dadurch, daß sie keineswegs
die besten Charaktere der unterdrückten Nation aufnimmt. Der
ungarische Staat mit seiner gewaltsamen Magyarisation ist für
den Kenner ein abschreckendes Beispiel entnationalisierender
Charakterlosigkeit.
Die politische Selbständigkeit wird allerdings immer mehr
zu etwas Relativem, dies ist aber kein Argument gegen das Streben
der unterdrückten Nation nach Selbständigkeit. Die ehemalige
Souveränität der absolutistischen Staaten geht durch die wachsende
Zwischenstaatlichkeit und Intemationalität verloren; diese Sou
veränität war in hohem Grade durch die Abgeschlossenheit be
dingt. Die zeitgenössischen politischen Bündnisse (der Dreibund
z. B.) bedeuten ebenfalls eine merkliche Schwächung der ehe
maligen Souveränität.
Man kann ohne weiteres zugeben, daß die kleinen Nationen
unter dem Drucke ihrer großen Nachbarn stehen; — ein Beispiel:
das Verhältnis Österreich-Ungarns zu den Balkanstaaten. Es ist
deshalb schon öfters gesagt worden, daß es für die kleinen
Staaten und Natioen besser wäre, direkt ein Teil des feindlichen,
großen Staates zu sein. Serbien — so sagen seine Widersacher
— würde, an Österreich-Ungarn angegliedert, die Jugoslaven ver
mehren und einigen und derart seinem Feinde nachhaltigeren
Widerstand leisten, denn als selbständiges Serbien.
Diese und ähnliche Überlegungen entspringen der macchia-
vellistischen Politik von heute. Die Entwicklung Europas und der
Menschheit strebt der Demokratisierung zu, das heißt zur Hu
manisierung der zwischenstaatlichen und internationalen Ver
hältnisse; die Politik wird aufhören, der Tummelplatz macchia-
vellistischer Umtriebe zu sein, die nationale Selbständigkeit und
Eigenart wird sich ungestört bei zunehmender Internationalität
entwickeln.