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Von der Autonomie haben wir eben gesprochen. Es ist
richtig, das haben wir auch schon gestreift, daß sich manche
nationale Minderheiten und manche Nationen, die kleineren und
weniger entwickelten, wenigstens vorläufig mit der Autonomie be
gnügen würden; es ist auch richtig, daß es einige Nationen gibt,
die überhaupt keine nationalen und politischen Aspirationen haben.
So haben sogar z. B. die ihres Volkstums sich voll bewußten
Flamen in diesem Kriege die Erklärung abgegeben, daß sie von
ihren wallonischen Mitbürgern nicht losgelöst zu werden wünsch
ten. Aber um diese Nationen handelt es sich nicht, sondern um
jene, welche sich mit der Autonomie in einem fremden Staate
nicht begnügen und die politische Selbständigkeit anstreben.
Wenn Europa in Wahrheit demokratisch werden und wenn
ein dauerhafter Friede eintreten soll, so ist eine radikalere Lösung
der Nationalitätenprobleme notwendig; trotzdem ist unter den
gegebenen Umständen mit der Tatsache zu rechnen, daß auch im
erneuten Europa nationale Minderheiten und somit auch gemischte
Staaten weiter bestehen werden. Es wird sich aber daurm handeln,
daß diese Minoritäten möglichst klein und daß die Staaten nach
Möglichkeit nur von einer Nation bewohnt seien. Wenn sich zwei
(Belgien) oder drei (Schweiz) Nationen für die Erhaltung ihres
gemischten Staates entscheiden werden, so wird der Wille solcher
Volksteile gewiß respektiert werden.
Die nationalen Streitigkeiten sind vielfach Fragen nationaler
Minderheiten. So bilden z. B. die preußischen Polen in ganz
Preußen eine Minderheit, aber auf dem einstigen polnischen Ge
biete gibt es wieder deutsche Minderheiten und ähnl. Ins
besondere handelt es sich um die auf andersnationalem Territo
rium (insbesondere in Städten oder Industriezentren) sporadisch
verstreuten Minderheiten. Solche Minderheiten wird es auch in
den rekonstruierten Staaten geben.
Als Maxime bei der Rekonstruktion muß gelten, daß die
Minderheiten möglichst klein seien und daß sie in ihren bürger
lichen Rechten Schutz genießen. Darum könnte auf dem Friedens
kongresse ein internationales Nationalitäten-Minderheitsgesetz an
genommen und ein besonderes Schiedsgerichtstribunal für Nationa
litätsfragen (in der Völkerliga) eingesetzt werden.
Die Pangermanen haben häufig den Vorschlag gemacht, auch
bedeutende nationale Minderheiten zu versetzen; das Beispiel des
Zionismus und das Auswanderungswesen legen ein solches Aus