Full text: Das neue Europa: der slavische Standpunkt

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12 . 
Jede einzelne nationale Frage ein Problem für sich. 
22. Jede einzelne nationale Frage ist ein selbständiges, be 
sonderes Problem, welches die Kenntnis aller gegebenen Tat 
sachen erfordert. Man kann diese methodische Maxime nicht 
nachdrücklich genug hervorheben. Will man gegen die andern 
Nationen gerecht sein, so muß man ihre Probleme kennen; aber 
gerade in dieser Beziehung gibt es bei den Politikern und Staats 
männern in Europa wenig echte Kenntnis der Sprachen- und Na 
tionalitätenfragen. 
Der Inhalt der nationalen Gegensätzlichkeiten ist sehr kom 
pliziert. Manchen Orts spielt die Sprachenfrage eine verhältnis 
mäßig größere Rolle, anderswo ist wieder das politische Problem 
im Vordergrund, es können aber auch beide Probleme miteinander 
verquickt sein; die Tschechen z. B. haben ihren Sprachen-, aber 
auch ihren politischen Kampf auszufechten, indem sie ihr histo 
risches Recht auf einen selbständigen Staat geltend machen. Eben 
so berufen sich die Polen nicht allein auf das ethnographische 
Prinzip, sondern auch auf ihr historisches Recht, dagegen kennen 
die Iren eine Sprachenfrage sozusagen überhaupt nicht, dort ist 
der Gegensatz mehr religiöser und politischer Natur. Anderswo 
stehen wieder wirtschaftliche Fragen im Vordergründe usw. 
Die Nationalität findet eben nicht nur in der Sprache, sondern 
in der gesamten Kultur ihren Ausdruck —• Wissenschaft und Philo 
sophie, Recht und Staat, Sittlichkeit und Religion, Kunst und 
Technik, Sitten und Gebräuche sind je nach der Nation verschieden; 
auch die Frage der Rasse fällt stark ins Gewicht. Deshalb werden 
die nationalen Unterschiede von verschiedenen Völkern verschieden 
gefühlt und bestimmt. Nicht alle Nationen sind in gleichem Maße 
sich ihres Volkstums bewußt und entschlossen, ihre Nationalität 
und deren Kulturinhalt gegen eine andere Nationalität zu vertei 
digen; darum enthält z. B. der bolschewistische Friedensantrag den 
Grundsatz, daß der Grad der nationalen Entwicklung und Bildung, 
resp. der Zurückgebliebenheit das Recht auf Selbstbestimmung 
nicht verringere. Bei solcher Kompliziertheit des Problems kann 
man wohl sagen, daß es ebensoviel nationale Fragen als Na 
tionen und Minoritäten gibt — man darf nicht alle nationalen 
Fragen nach einer Schablone lösen wollen.
	        
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