Full text: Das neue Europa: der slavische Standpunkt

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38. Die ganze gegenwärtige deutsche Kultur ist, sofern es 
erlaubt ist, derartige Generalisationen auszusprechen, eine äußer 
liche. Deutschlands äußere Ordnung ist seine Stärke und 
Schwäche zugleich: lauter Organisation, Organisation von Organi 
sationen, Überorganisation, aber das Ziel — die Oberherrschaft 
über die Völker — ist sittlich schlecht. Die preußische Ordnüng, 
wissenschaftlich durchdacht, ist ein Kraftfaktor, und die Deutschen 
fühlen sich darum als Herrenvolk; aber das bißchen Kultur mehr 
oder weniger, zumal der äußerlichen, gibt kein Recht, über die 
Völker, die sich auf ihre Weise entwickeln, zu herrschen. Die 
verschiedenen Völker stehen auf einer verschiedenen Stufe der 
Entwicklung; es steht nirgends geschrieben, daß alle Völker zu 
gleich und gleichmäßig gebildet sein müssen: Es genügt, wenn 
sie nach sittlicher und intellektueller Vervollkommnung und nach 
Fortschritt ehrlich streben. Europa mag geeinigt, mag einheit 
lich werden, aber das bedeutet nicht, daß es einförmig sein soll. 
Im Gegenteil, die Entwicklung ist auf Mannigfaltigkeit, auf In- 
dividualisation gerichtet. Alle Wissenschaft und Gelehrsamkeit 
hat die Deutschen gerade in diesem Kriege nicht vor Kurzsichtig 
keit bewahrt; sie haben sich militärisch gut vorbereitet, ja sie 
waren die einzigen, die gut vorbereitet waren, aber sie haben 
nicht vorausgesehen, wie sich dieser Krieg entwickeln wird; sie 
haben Rußland unterschätzt, Österreich überschätzt, sie haben 
England und Amerika nicht verstanden, sie täuschten sich be 
züglich Frankreichs, das sie als entartet erklärt haben. Über 
haupt haben sich die Deutschen gerade in diesem Kriege und 
trotz ihrer Siege klein gezeigt. 
Bei allem Streben nach Weltgröße wird Berlin durch den 
unverhältnismäßigen Einfluß der Dynastie zur Kleinheit und zu 
einer eigenartigen Beschränktheit herabgedrückt. Und gar Wien, 
das ist gar ein kompletter habsburgisch er Krähwinkel. 
Es soll nicht geleugnet werden, daß wir der deutschen Lite 
ratur, Wissenschaft und Philosophie, der deutschen Technik vieles 
verdanken. Aber wir haben auch bei den Franzosen, Engländern, 
Italienern, Amerikanern, Skandinaviern und Russen gelernt und 
bei ihnen unsere Bildung uns geholt. Die Verstandesbildung ist 
nur ein Teil der nationalen Kultur; in diesem Punkte könnten wir 
uns gerade auf die deutsche Psychologie und Philosophie berufen, 
— charakteristischer Weise gerade die nichtoffizielle Philosophie; 
die offizielle, auf den Universitäten getriebene Wissenschaft und
	        
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