Full text: Gesammelte Schriften (3)

Großbritannien und Frankreich 
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Marschall 1 in den Köpfen der ehrlichen Moslems erweckt hatte, um seine 
Freundschaftsfarce in Konstantinopel aufführen zu können! Jedenfalls 
fühlen sich die gebildeten Türken vom Deutschen Reich einfach im Stich 
gelassen, und dies ist das Entscheidende für unsere heutigen Bestrebungen 
im Nahen Osten, welche immer diese sein mögen. 
London und Paris sind die großen Geldmärkte von Europa, und bei den 
englischen Freundschaftscmpfindungen für Frankreich ist es ebensosehr 
auf die Spartöpfe des französischen Mittelstandes wie auf die französischen 
Armeekorps für einen Kriegsfall abgesehen. Die Entente cordiale kann 
zu gleicher Zeit Österreich-Ungarn und die Balkanstaatcn finanziell aus 
hungern. Denn es ist kaum anzunehmen, daß für absehbare Zeit der 
deutsche Markt dort helfend eingreifen könnte. Die Ergebnisse der letzten 
Reichs- und Preußischen Anleihe sind nicht ermutigend in dieser Richtung. 
Es ist wiederholt ausgesprochen, daß die politische Lage Deutschlands 
sich während der letzten Krisis auch besonders deshalb verschlechtert habe, 
weil die österreichische Diplomatie, daneben aber auch die österreichisch 
ungarische Militärorganisation, völlig versagte. Österreich-Ungarn war im 
Herbst vorigen Jahres nicht schlagfertig, und das ist einer der Gründe für 
die zaudernde Unentschlossenheit des Grafen Berchtold^. 
Wie weit wir auf die italienische Bundcsgenossenschaft rechnen können, 
ist jederzeit eine offene Frage. Die Entente zwischen Petersburg und Rom 
ist vorhanden, und die italienischen Staatsmänner werden naturgemäß 
dahin neigen, wo sie die vollste Befriedigung für ihre Interessen erwarten 
können. Im Augenblick erstreben sie feste Stellungen im Agäischen Meer 
sowie die Kontrolle über Südalbanien und womöglich den Hafen von 
Valonab. Die orientalische Frage ist eben noch lange nicht gelöst, und eine 
Reihe von Möglichkeiten liegt im Schoße der Zukunft. 
Ich erwähne alle diese Tatsachen, weil sie veranschaulichen, was die 
engere Zusammenziehung der europäischen Westmächte im Augenblick be 
deutet. Da der Nahe und der Mittlere Osten Raum genug bieten für eine 
Ausgleichung der russischen und westmächtlichen Interessen, da die Tripel- 
entente cs in der Hand hat, auch dem italienischen Ehrgeiz gerecht zu 
werden, scheint wenig Aussicht, daß daö friedliche Deutschland seinen 
* Marschall v. Bieberstein (1842—1912), von 1890 bis 1897 Staatssekretär des Aus 
wärtigen Amtes, sodann Botschafter in Konstantinopel. 
2 Graf Leopold Berchtold (1868—1942), österreichisch-ungarischer Staatsmann, von 
1912—19IS Minister des Auswärtigen. 
3 Haupthafen des südlichen Albaniens.
	        
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