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Aufsätze
wie für kein anderes Volk" als einen gefährlichen Irrtum erscheinen.
Solche Anschauungen waren auch in Preußen vor Jena lebendig. Nun
ficht die Zeit in Wirklichkeit niemals weder für den einzelnen noch für
ganze Völker, sondern wir alle haben uns unsere Erfolge durch ernste
Arbeit zu erkäinpfen. Wenn aber heute die ungehindert fortschreitende Ent
wicklung einem Volke eine große Weltmachtstellung zu bringen verspricht,
so ist es das britische, welches im Ausbau seines Föderativismuö begriffen
ist. Oder das russische, dessen kolossaler Bevölkerungszunahme weite
Räume in Asien offenstehen. Das deutsche, eingekeilt in der Mitte von
Europa, falls die gegenwärtige Entwicklung nicht durch seine eigenen
Kraftleistungen durchbrochen wird, steht vielmehr in Gefahr, vom Wett
bewerb als Weltmacht umgekehrt ausgeschlossen zu werden.
Hierin scheint mir der Grundirrtum in der deutschen auswärtigen Politik
der letzten Epoche ausgesprochen zu sein. Man meinte, wir befänden uns
in der politischen Defensive, während unsere Nation umgekehrt politisch
offensiv vorgehen muß, um den Wettbewerb mit Großbritannien und Ruß
land, wahrscheinlich auch mit Nordamerika und vielleicht sogar mit China,
durchführen zu können.
Es war diese Erwägung eines der Motive, welche uns in den achtziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts veranlaßten, expansive deutsche Kolonial
politik zu treiben. Mit dem Jahre 4890 ist diese Bewegung abgeschnitten,
denn der Pachtvertrag um Kiautschau gehört nicht zu den kolonialpolitischcn
Erwerbungen. Wurde aber die koloniale Ausdehnung unterbrochen, weil
man dachte, Deutschland habe nun genug Kolonien? Nur ein Einfalts
pinsel könnte so denken. Was wir 4890 hatten, war weder nach Quantität
noch nach Qualität im Hinblick auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse der
deutschen Nation berechnet worden. Es war ein ganz zufälliges Konglo
merat von Torsen willkürlich gemachter Landerwerbungen und ist auch in
keiner Beziehung der germanischen Weltstellung angemessen. Daß dieser
Gesichtspunkt nach den energischen Ansätzen der achtziger Jahre der letzten
Epoche so ganz abhanden gekommen ist, wird voraussichtlich der größte
Vorwurf sein, den ihr die geschichtliche Kritik der Nachwelt machen wird.
Unsere deutsche Kolonialvcrwaltung mag einsichtig und wohlwollend sein;
aber auch ihre aufrichtigsten Freunde werden ihr nicht nachrühmen wollen,
daß sie weitausschauend oder gar groß sei.
Herr Krause fragt mich, ob ich irgendein „erreichbares Ziel kenne,
wegen dessen das deutsche Volk sich bcn Gefahren eines Weltkrieges aus-