556 V. Abschn. Naturalvergütung. 1. Kap.: Naturalverg. in den Gesetzen.
faktische Verhältnis der Parteien, das durch den Vertrag begründet
wird, ist, wo der einen eine Arbeitsleistung obliegt, in vielen Fällen
ein längeres als da, wo es sich nur darum handelt, eine Sachleistung
durch eine andere wettzumachen. Daher ist beim Arbeitsvertrag
mehr Anlafs und Gelegenheit, die Gewährung der Vergütung zeitlich
auszudehnen und demnach eine Art der Vergütung zu wählen, die
selber zeitlich ausdehnbar ist, im Gegensatz zur Geldleistung, die nur
durch Zerstückelung über Zeiträume erstreckt werden kann. Wem
für eine momentane Sachleistung eine Gegenleistung gebührt, hat
wenigstens an jener keinen Anlaß, sich dieser z. B. durch freie Station
erst allmählich teilhaft zu machen.
Der statistisch nachweisbare Fortbestand der Naturalvergütung
würde eine nationalökonomische, noch nicht eine juristische Verfol-
zung derselben rechtfertigen. Der Jurisprudenz aber stellt die
Naturalvergütung schon dadurch eine Aufgabe, dass sie, durch ihre
Mannigfaltigkeit sich von der einfachen und eintönigen Geldvergütung
Abhebend, eine Abgrenzung von ähnlichen, beim Arbeitsvertrag vor-
kommenden Naturalleistungen verlangt, die keineswegs auf der Hand
liegt. Sodann ruft ihr sie von der Geldvergütung trennendes Wesen
Eigentümlichkeiten der Rechtswirkung hervor, welche dem juristischen
Nachdenken Stoff und der juristischen Entscheidung Probleme
liefern.
Man betritt das Gebiet der Naturalvergütung leicht in dem
Glauben, hier nur auf eine im Erlöschen begriffene Einrichtung zu
‚effen, deren privatrechtliche Erfassung nicht lohnend sei. Allein,
einmal ist es auch der juristischen Einsicht förderlich, bei näherer
Betrachtung dieses Gebildes die Ursachen kennen zu lernen, welche
seinen teilweise anachronistischen Fortbestand wie auch die unver-
kennbare Tendenz seines Niederganges erklären. Und noch bemerkens-
werter ist es, dafs der absterbende Baum der Naturalvergütung, wohl
zerade unter der Einwirkung der Geldwirtschaft, einen neuen Zweig
getrieben hat. Denn gehört jegliche Vergütung, die nicht Geld-
vergütung ist, in die Begriffsgrenzen der Naturalvergütung, so haben
wir hierhin auch diejenige Vergütung zu stellen, welche in Gewährung
ainer Gelderwerbsgelegenheit besteht. Und diese heutzutage sehr
verbreitete Bildung oder Mikbildung hat für die rechtwissenschaftliche
Würdigung auch den Reiz der Neuheit.
Fast alle Dienstboten erhalten Naturalvergütung, und „jede achte Frau in
Wien ist ein Dienstbote“: Winter in Dokumente der Frauen vom 15. Januar
1900 S. 585.