VI. Beschränkung der Freiheit des Arbeitnehmers dureh Naturalvergütung. 745
bindende Kraft, welche die in Wohnung und in Landnutzung be-
stehende Naturalvergütung dadurch ausübt, dafs sie den Arbeitnehmer
am locus rei sitae festhält, damit zur Aushaltung eingegangener und
zur Eingehung neuer Arbeitsverhältnisse veranlafst. Daher finden wir
vorzüglich bei Landarbeitern nicht nur die Ungebundenheit hervor-
gehoben, welche die Geldlöhnung verleiht*, sondern auch positiv dem
Naturallohn die Kraft beigemessen, den Arbeitnehmer an die Scholle
zu fesseln®*; und von dieser Kraft wird Gebrauch gemacht?. Dazu
gesellt sich noch die Abrede, dals bei faktischem oder rechtlichem
Abbruch des Arbeitsverhältnisses die Wohnungs- oder Landüberlassung
als Miete oder Pacht behandelt werden, oder die Frucht dem Arbeit-
geber zufallen soll *.
Von der gebräuchlichsten Naturalvergütung, Kost oder Wohnung
in der Hausgemeinschaft gewährt, ist die freiheitsbeschränkende
Wirkung allgemein anerkannt. Was die Arbeitgeber anlangt®, so
bestätigen die Gründe, mit denen sie sich dem Plane der Abschaffung
der gedachten Naturalvergütung widersetzen, dafs der Umfang ihrer
Herrschaft dabei in Frage kommt®. Und was die Arbeitnehmer an-
langt, so gehört es zu den täglichen Erscheinungen in der wirtschaft-
Verhältnisse der Landarbeiter II, 504. 505. 522.
? Jentsch, Arbeiterverhältnisse in der Forstwirtschaft S. 78—79.
Fiebelkorn, Arbeitervermittelung in der Ziegelindustrie S. 9. Verhältnisse
der Landarbeiter I, 93. 94: „In Wirklichkeit ist er (der freie Tagelöhner),
wenn auch durch keinen Kontrakt, so doch durch die Gewährung von Natu-
ralien, deren volle Ausnutzung doch längere Zeit erfordert, dem Gutsherrn
gegenüber gebunden.“ Im preufsischen Landtag wurde am 21. April 1898
in einer Debatte über ländlichen Arbeitermangel von einem agrarischen Ab-
geordneten erklärt, er erblicke „in der Naturallöhnung ein eminentes Mittel,
um den Arbeitsleuten das Verbleiben an Ort und Stelle zu erleichtern (!),
andererseits die Lust zum Auswandern erheblich einzuschränken.“
®? Verhältnisse der Landarbeiter II, 498. Andererseits bringt die Tendenz,
den Instmann ganz für den Gutsherrn in Beschlag zu nehmen, diesen dazu,
die Landnutzung aufzuheben und dafür die Nahrungsmittel zu liefern: Knapp,
Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit (1891) S. 84. 85.
* Verhältnisse der Landarbeiter II, 499. 569. 578.
5 Einsichtige Erklärung eines Brotfabrikanten bei Arnold, Münchener
Bäckergewerbe 8. 71.
% Komm. f. Arbeiterstatistik, Verhandlungen Nr. 16 S. 82. 85. — Hiermit
wird nicht in Abrede gestellt, dafs der Widerstand auch andere Gründe
haben kann, z. B. pekuniäres Interesse: Württembergische Fabrikinspektion
f. 1898 S. 126, denn höherer Lohn bei blofser Geldvergütung: Lage des Hand-
werks II, 398, Lage der deutschen Holzarbeiter (1899) S. 25; anders bei Land-
arbeitern: Landarbeiter in den evang. Gebieten I, 54. Mannigfaltige Gründe
in der von den Vorständen der Bäckerinnungen von Hamburg, Altona und
Wandsbeck edierten Schrift: Bäckerstreik und Brotboykott (1899).