Full text: Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches (1)

786 VI Abschn. Tarifvertrag. 2. Kap.: Rechtswirkung. 
Die Ansicht, dafs sich die Rechtswirkung des Tarifvertrags auch 
gegenüber abweichenden Arbeitsverträgen durchsetzt, fängt an beim 
Gewerbegericht wenigstens insoweit Boden zu fassen, dafs dem Arbeits- 
vertrag die derogierende Kraft abgesprochen wird. Denn während 
die Berliner Tischlermeister und Hausindustriellen am 9. Dezember 
1901 trotz des am 20. März 1900 geschlossenen Tarifvertrags! für 
sich das „Recht“ in Anspruch nahmen, „die zu zahlenden Löhne, ent- 
sprechend der Geschäftslage und dem Angebot von Arbeitskräften, 
mit ihren Arbeitnehmern festzusetzen“, war vom Berliner 
Einigungsamt erklärt worden, dafs während der Geltung des Tarif- 
vertrags Lohnänderungen nur zu gesamter Hand, vor den tarifvertrags- 
mäfsigen Instanzen vorgenommen werden könnten ?, 
Kein Mensch würde es für möglich halten, die den Tarifvertrag 
selbst betreffenden Bestimmungen (S. 761) durch Arbeitsvertrag aufser 
Kraft zu setzen, es spricht aber nichts dafür, dafs die das Arbeits- 
verhältnis regelnden Bestimmungen des Tarifvertrags geringere Wider- 
standsfähigkeit besitzen. Wie wenig die Parteien selbst, namentlich 
die Arbeitgeber, auf die Schwäche des Tarifvertrags und seine 
Derogierbarkeit vertrauen, sieht man am besten daraus, dafs sie sich 
oft dem Abschlufs eines Tarifvertrags zu entziehen suchen?. Wenn 
sie es in der Hand zu haben glaubten, sich seiner durch Arbeits- 
verträge zu entledigen, so brauchten sie nicht zu zögern, zu seinem 
Abschlufs die Hand zu bieten. Dieses Gefühl der Gebundenheit, der 
Gebundenheit gegenüber einer Mehrheit, ist ein richtiges Rechtsgefühl, 
und die Verneinung jener Gebundenheit würde Denaturierung des 
Tarifvertrags sein. Alle eigenartigen Vorteile, die man der kollektiven 
Vertragschliefsung nachrühmt, werden preisgegeben, wenn man sie der 
individuellen Vertragschliefsung erliegen läßt. Wer hier einer Mehrheit 
im Interesse aller ihrer Teilnehmer sein Wort giebt, bricht es allen, 
auch wenn er sich das Einverständnis eines einzelnen zu verschaffen 
weiß: dessen Genossen, die anderen Promissare, werden beeinträchtigt. 
Und gehört er selber einer Mehrheit an, die sich an seiner Seite auf 
1 Sociale Praxis IX, 666. 667, 
? „Das Einigungsamt ist ferner der Ansicht, dafs Änderungen der Löhne, 
in welcher Art sie auch beabsichtigt sein mögen, so lange der Vergleich 
Gültigkeit besitzt, durch Verhandlungen und Abreden der Parteien vor der 
Achtzehnerkommission, und wenn dort eine Einigung nicht erzielt wird, vor 
dem Einigungsamt herbeigeführt werden müssen.“ Gewerbegericht VII, 131. 182, 
® Hierher gehört auch der Vorwurf, welchen auf Seiten der Arbeit- 
nehmer prinzipielle Gegner dem Tarifvertrag machen: dafs er die Freiheit 
der Bewegung beeinträchtige.
	        
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