Full text: Kritik des Gothaer Programms

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Reichstags sind genau dieselben, wie die der preußischen Kammer, 
und daher nannte Liebknecht diesen Reichstag das- Feigenblatt des 
Absolutismus. Auf Grundlage eines Bundes zwischen Preußen, Reuß- 
Greiz-Schleiz-Lobenstein, wovon das eine soviel Quadratsisilan hat 
als das andere Quadratsoll, auf solcher Grundlage die „Umwandlung 
aller Arbeitsmittel in Gemeineigentum" durchführen zu wollaa, int 
augenscheinlich sinnlos. 
Daran zu tasten ist aber gefährlich. Und dennoch muß so oder so 
die Sache angegriffen werden. Wie nötig das ist, beweist gerade 
jetzt der in einem großen Teile der sozialdemokratischen Presse ein 
reißende Opportunismus. Aus Furcht vor einer Erneuerung des So 
zialistengesetzes, aus der Erinnerung an allerlei unter der Herrschaft 
jenes Gesetzes gefallenen voreiligen Äußerungen soll jetzt auf einmal 
der gegenwärtige gesetzliche Zustand in Deutschland der Partei ge 
nügen können, alle ihre Forderungen auf friedlichem Wege durch 
zuführen. Man redet sich und der Partei vor, „die heutige Gesell 
schaft wachse in den Sozialismus hinein", ohne sich zu fragen, ob sie 
nicht damit ebenso notwendig aus ihrer alten Gesellschaftaverfaasung 
hinauswachse, diese alte Hülle ebenso gewaltsam sprengen müsse 
wie der Krebs die seine, als ob sie in Deutschland nicht außerdem 
die Fesseln der noch halb absolutistischen und obendrein namenlos 
vernommen politischen Ordnung zu sprengen habe. Man kann sich 
vorstellen, die alte Gesellschaft könne friedlich in die neue fainein- 
wachsen in Ländern, wo di® Volksvertretung alle Macht in sich kon 
zentriert, wo man verfassungsmäßig tun kann, was man will, sobald 
man die Majorität dos Volkes hinter sich hatj in demokratischen 
Republiken wie Frankreich und Amerika, in Monarchien wie Eng 
land, wo die bevorstehende Abkaufung der Dynastie tagtäglich .in 
der Presse besprochen wird, und wo diese Dynastie gegen den Volks 
willen ohnmächtig ist. Aber in Deutschland, wo die Regierung fast 
allmächtig und der Reichstag und alle anderen Vertretungskörper 
ohne wirkliche Macht, in Deutschland so etwas proklamieren und 
noch dazu ohne Not, heißt das Feigenblatt dem Absolutismus ab 
nehmen und sich selbst vor die Blöße binden. 
Eine solche Politik kann nur die eigene Partei auf die Dauer irre 
führen. Man schickt allgemeine, abstrakte politische Fragen in den 
Vordergrund und verdeckt dadurch die nächsten konkreten Fragen, 
die Fragen, die bei den ersten großen Ereignissen, bei der ersten
	        
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