Full text: Kritik des Gothaer Programms

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politischen Krise sich selbst auf die Tagesordnung setzen. Was kann 
dabei herauskommen, als daß die Partei plötzlich im entscheidenden 
Moment ratlos ist, daß über die entscheidendsten Punkte Unklarheit 
und Uneinigkeit herrscht, weil diese Punkte nie diskutiert worden 
sind. Soll es wieder gehen, wie seinerzeit mit den Schutzzöllen * 1 , die 
man damals für eine nur die Bourgeoisie angehende, die Arbeiter 
nicht im entferntesten berührende Frage erklärte, wo also jeder 
stimmen konnte, wie er wollte, während jetzt mehr als Einer ins ent 
gegengesetzte Extrem verfällt und aus Gegensatz gegen die schutz- 
zöllnerisch gewordenen Bourgeois' die ökonomischen Verdrehungen 
von Cobden und Bright neu auflegt und als reinsten Sozialismus 
predigt — das reinste Manchestertum 2 ? 
Dies Vergessen der großen Hauptgesichtspunkte über den augen 
blicklichen Interessen des Tages, dies Ringen und Trachten nach dem 
Augenblickserfolg ohne Rücksicht auf die späteren Folgen, dies Preis 
geben der Zukunft der Bewegung um der Gegenwart der Bewegung 
willen mag ehrlich gemeint sein, aber Opportunismus ist und bleibt 
es, und der „ehrliche" Opportunismus ist vielleicht der gefährlichste 
von allen. ^Welches sind nun diese kitzligen, aber sehr wesentlichen 
Punkte? 
Erstens. Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsere Partei 
und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der 
Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische 
Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große franzö 
sische Revolution gezeigt hat. Es ist doch undenkbar, daß unsere 
besten Leute unter einem Kaiser Minister werden sollten, wie MiqueL 
Nun scheint es gesetzlich nicht anzugehen, daß man die Forderung 
der Republik direkt ins Programm setzt, obwohl das sogar unter Louis 
Philippe in Frankreich ebenso zulässig war wie jetzt in Italien. Aber 
das Faktum, daß man nicht einmal ein offen republikanisches Partei 
programm in Deutschland aufstellen darf, beweist, wie kolossal die 
1 In dar Frage der Schutzzölle entstand ln der sozialdemokratischen Roiehs- 
tagsfraktion — 0 Abgeordnete waren in den .Attentatswahlen“ 1878 gewählt 
worden — eine Spaltung. Kayser stimmte für höhere Eisenzölle. Die Red. 
1 Unter dem „Manchestertum“ versteht man die englische Freihandels 
bewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die von Vertretern dieser 
Richtung gegründete Antikornzolliga hatte in Manchester ihren Hauptsitz. Zu 
den bekanntesten Wortführern dieser Richtung gehörten Cobden und Bright. 
Die Red.
	        
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