DREIZEHNTES KAPITEL.
FRAUENKÖPFE UND DRAPERIEPROBLEME.
Im künstlerischen Glaubensbekenntnis unseres Meisters bat das Weih
jederzeit die erste Stelle eingenommen. Darüber haben uns die vorher
gehenden Kapitel ausreichende Kunde gegeben, aber was sie an Fragmenten
jenes unvergleichlichen plastischen Hohen Liedes boten, genügt gerade, die
Sehnsucht nach dem Verlorenen wach zu halten und zur Fortsetzung des
Kampfes mit der monumentalen Überlieferung zu stärken, Was steht nicht
alles auf dieser Verlustliste! Vom Bildnisse seiner Liebsten an, deren
Züge wir so gut zu kennen glauben, bis zu den Bildern so mancher grossen
Göttin fehlen uns auch die seiner Niken, Mänaden, Karyatiden, es feldt
seine Methe, seine „Spinnerin“ und noch einiges andere, von dem zu
schweigen, wovon die Litteratur schweigt, wie zum Beispiel seine Musen.
Wohl dürfen wir hoffen, die Zukunft werde noch Ersehntes wie Unerwartetes
bescheren, aber uns damit bescheiden dürfen wir nicht. Noch mancher
Schatz harrt in den Museen der Verwertung, namentlich gehören praxite-
lisch amnutende Frauenköpfe nicht gerade zu ihren Seltenheiten, und wenn
auch hier nicht alles Gold ist, was glänzt, so kündet um so öfter schlichte
Schönheit seine Nähe. Eine Gewandfigur jedoch mit einem solchen, die
uns dadurch sicheren Aufschluss geben würde, ob ihn auch das Problem
des Mantelwurfes interessierte und wie er es gelöst habe, fand sich bisher
nicht, oder doch nur für die Finder. Dafür müssen wir nach anderen
Methoden der Lösung spähen, aber wir müssen einmal; es hat eine zu
bedeutende Rolle in der Frauenplastik der Folgezeit gebildet, um an der
Frage der Beteiligung unseres Meisters daran Vorbeigehen zu dürfen. So bleibt
denn nichts übrig, als beide Elemente gesondert zu betrachten, und uns so auf
den Glücksfall würdig vorzubereiten, der sie uns einst vereint zeigen wird.
Wir beginnen mit einer kurzen Überschau der wichtigsten praxitelischen
Frauenköpfe.