Gravidität, 57
ausgehen und neben allgemeineren Ernährungs- und Stoffwechselstörungen
hauptsächlich Änderungen der Blutmischung und Beimengungen giftiger
Fermente, welche den schädlichen Einfluss auf das Zentralnerven-
system ausüben. Daneben können aber je nach den äusseren Umständen
rein seelische Momente wie Sorge, Scham, Angst vor der Geburt
erheblichere Bedeutung gewinnen. Der Grad ihrer Einwirkung hängt
immer ganz wesentlich von der Schwere der vorhandenen psychopathi-
schen Veranlagung ab.
Besonders .häufig begegnen wir, zumal bei bestehender psycho-
pathischer Disposition einzelnen nervösen Beschwerden in der
Schwangerschaft wie Kopfschmerzen, Schwindel, Ohnmachtsanwandlungen,
Erbrechen, Neuralgien, Kreuzweh, Wadenkrämpfen, allgemeiner Unruhe
mit Schlaflosigkeit. Auf seelischem Gebiet machen sich vor allem
Reizbarkeit, unbegründeter Stimmungswechsel, Neigung zum Grübeln,
Niedergeschlagenheit, Weinen, Gefühl allgemeiner Leistungsunfähigkeit,
selbst Anwandlungen von Lebensüberdruss bemerkbar. Der Appetit
wird bisweilen schlecht, oder aber Zustände von Heisshunger wechseln
mit Anwandlungen von Ekel vor den gewohnten Speisen; die sonder-
baren Gelüste mancher Schwangeren sind allgemein bekannt. Ausserdem
können sich Eklampsie, Chorea, Polyneuritis und eine Reihe schwerer
Psychosen entwickeln. In der Regel jedoch bleibt es bei den geschilder-
ten leichteren Beschwerden.
Ähnlich wie bei der Menstruation (vergl. S, 86) wird auch
während der Gravidität diese gesteigerte Labilität der
seelischen Funktionen jede bereits vorhandene psycho-
pathische Veranlagung stärker hervorheben und gleich-
zeitig durch Verminderung der Hemmungen und Betonen
der affektiven Seite die bisherige Widerstandsfähigkeit
gegenüber auftauchenden Versuchungen herabsetzen. Da-
her erheischt es jedenfalls Beachtung, wenn festgestellt wird, dass ein
Delikt gerade im Zustande der Schwangerschaft begangen wurde.
Endlich entwickelt sich ın einzelnen Fällen bei psychopathischen
Frauen, die sich ursprünglich auf das kommende Kind gefreut hatten,
mit Zunahme der Schwangerschaftsbeschwerden wachsender Abscheu und
Hass gegen die Frucht mit dem dringenden Wunsche, von derselben
befreit zu werden (Schwangerschaftskomplex), und führt zu Lebensüber-
druss mit triebartigen, recht gefährlichen Selbstmordversuchen. Dieses
psychogene Krankheitsbild kann zeitweilig einer agitierten Melancholie
ausserordentlich ähnlich sehen; allein mit einer Unterbrechung der
Schwangerschaft verschwindet der gesamte bedrohliche Symptomen-
komplex.
Lit (2, 178:
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