Depressiv-ängstlicher Symptomenkomplex.
nur unregelmässig oder unterbleiben ganz, weil sich der Kranke nicht
mehr dazu imstande fühlt. Schliesslich bedingt das subjektive Insuffi-
zienzgefühl sogar eine unüberwindliche Scheu, überhaupt noch einen
eingehenden Brief zu öffnen, so dass sich Stapel unerledigter Schrift-
stücke ansammeln, die der Depressive in seiner ratlosen Angst, um Auf-
sehen und Vorwürfe zu vermeiden, womöglich versteckt oder bei Seite
schafft.
Ebenso schlecht werden die eigenen Interessen wahrgenommen :
Rentenquittungen werden nicht unterschrieben, Lose verfallen; aus
Mangel an Übersicht entstehen Schulden; um die Lücken zu stopfen,
wird ‚der Besitz zu Spottpreisen verschleudert. Das _entschlusslose
Schwanken führt oft zu ganz widerspruchsvollen Massnahmen.
Handelte es sich nicht mehr um blosse Hemmung infolge der
Depression, sondern war diese mit einer fortschreitenden geistigen
Schwäche verknüpft (z. B. bei Dementia arteriosclerotica), so gewinnt
die Unfähigkeit zur Besorgung eigener Angelegenheiten und zur Er-
füllung der Amtspflichten natürlich rasch einen immer beängstigerenden
Umfang.
Der Gutachter muss wissen, dass gerade bei den leichten Formen
reiner Depression (Manisch-depressives Irresein) sich lange Zeit ausser
dem quälenden Insuffizienzgefühl mit Mangel jeglicher Initiative nur
allerlei nervöse Beschwerden zeigen können, so dass eine laienhafte
Umgebung das Bestehen von Krankheit überhaupt nicht anerkennt
und bei plötzlicher Verschlimmerung mit unerwarteten Verkehrtheiten
zuversichtlich behauptet, der Betreffende sei bis dahin völlig ge-
sund gewesen.
Erst wenn man sich dann eingehend nach allen Einzelheiten er-
kundigt, erfährt man von weiter zurückliegenden charakteristischen Ver-
änderungen. Zuweilen. bietet die gegen früher klein und unsicher ge-
wordene Handschrift Anhaltspunkte für die Zeit des Krankheitsbe-
ginnes. Von hohem Interesse sind ferner alle Aufzeichnungen des Kranken,
Tagebücher, Briefe, Randbemerkungen und Unterstreichungen in letzthin
gelesenen Zeitungen und Büchern. Ein melancholischer Seeoffizier, der
bis zum Tode unauffällig Dienst versah, hatte einige Tage vor seinem
alles Kameraden überraschenden Selbstmord (Sprung ins Meer) in der
Rangliste hinter seinen Namen geschrieben: „Grundgänger“ (Ausdruck
für einen Torpedo, der nicht an die Oberfläche zurückkehrt).
Im übrigen ist bei der Beurteilung des Geisteszustandes der Haupt-
nachdruck zu legen auf dauernd niedergeschlagene Stimmung
mit Änderung des gewohnten Gebahrens, der Anschauungen
und der Leistungsfähigkeit. Wichtig sind auch etwaiger Verlust
von Schlaf und Appetit, Klagen über zahlreiche nervöse Beschwerden,
zumal in der Herzgegend, Angstanfälle, Neigung zu haltlosem Weinen.
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