Full text: Kurzgefasstes Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie für Mediziner und Juristen

1 Depressiv-hypochondrischer Symptomenkomplex. 
in der Ehe zur Folge haben (vergl. S. 73). Die Aussichten auf Besserung 
dieses Zustandes hängen vor allem von der Art des Grundleidens ab. 
Wichtiger noch ist der Nachweis hypochondrischer Züge als Zeichen 
geistiger Erkrankung in Fällen schleichend beginnender Demenz 
bei Senilen, die mit dem Strafgesetzbuch in irgend welcher Weise in 
Konflikt geraten sind: Diebstahl, Sittlichkeitsverbrechen usw. 
Im allgemeinen spielt der hier besprochene Symptomenkomplex 
forensisch keine grosse Rolle. Über die bisweilen auftretenden Zwangs- 
vorstellungen, Phobien, Zwangsantriebe vergl. S. 191! 
Beispiel 12. - 
(Hypochondrisches Zustandsbild im Verlaufe des manisch-depressiven 
Irreseins. Entmündigung wegen Geistesschwäche.) 
In der Entmündigungssache des Agenten Alexander B. erstatte ich das er- 
forderte ärztliche Gutachten auf Grund eigener Beobachtung und nach Kenntnis- 
nahme der Akten, wie folgt: 
Vorgeschichte. 
Der 49jährige Alexander B. stammt von einem beschränkten Vater und einer 
hysterischen Mutter, hat in der Schule schwer gelernt; war schon als Kind nervös 
vreizbar und neigte zu Wutanfällen. Anfangs war er im väterlichen Geschäfte tätig, 
dann wurde er sehr unternehmend, machte sich selbständig, liess sich auf Speku- 
lationen ein, verlor alles. Dann folgt eine ruhigere Zeit, wor7er sich mit Vertretungen 
begnügte. Plötzlich fing er mit dem Gelde seiner Frau wieder zu spekulieren an, 
büsste alles ein, beging ein Sıttlichkeitsdelikt und kam ins Gefängnis. Damals soll 
er zuhause unsinnige Erregungszustände gezeigt und das Mobiliar zertrümmert haben. 
Mit jedem fing er Streit an, witterte überall Verfolgungen und Schikanen, trug 
Schusswaffen bei sich, war laut und lärmend. Später wurde er ängstlich, nieder- 
geschlagen, klagte über nervöse Beschwerden, lief von einem Arzte zum anderen. 
Er behandelte sich selbst, weil die Ärzte nichts fanden, bildete sich ein, auch der 
Sohn sei herzleidend, nahm ihn aus seiner guten. Lehrstelle fort. Es kam zum 
Streite mit der Familie. B. drohte mit Schiessen, wurde durch die Polizei der Irren- 
anstalt zugeführt. 
Eigene Beobachtung. 
Körperlich gesunder, gut genährter Mann mit reichlichem Fettpolster. Alle 
Reflexe regelrecht. Keine Lähmungserscheinungen. 
B. behauptet, nicht gehen zu können, macht kleine ängstliche Schritte. Un- 
beobachtet bewegt er sich sicher. Klagt über eigentümliche nervöse Empfindungen‘: 
Es sei ein Gefühl wie ein zugespitzter Zuckerhut, das andere wie ein flaches Dach; 
in der Muskulatur ein drehendes Gefühl, über den ganzen Körper ein Drahtgeflecht. 
Der rechte Beinnerv sei zu weich, der Schulternerv zu hart, in den Gelenken seien 
rheumatische Ablagerungen, hervorgerufen durch die Nervosität; bisweilen platzten 
diese und liessen den Gelenken keine freie Bewegung; auf der ganzen rechten Seite 
sei ein lähmendes Gefühl, die Zellenvibration, und auf dem Herzen und den Lungen 
sei ein kochendes Gefühl; in der Haut seien so runde kleine Dinger, die fortsprängen, 
wenn man daran massierte.. Solche und ähnliche hypochondrische Empfindungen 
beschreibt B. mit grosser Geschwätzigkeit und anscheinendem Behagen. 
Auch jetzt noch hält er an sonderbaren Vorstellungen fest wie, er sei voll 
schlechter Säuren, in seinen Muskeln sei eine heisse Flut und zuviel Phosphor, das 
Fleisch sei zu flüssig. In seine kaufmännischen Misserfolge hat er kein Einsehen, 
wähnt sich von seiner Umgebung schikaniert, seine Frau gehöre in die Anstalt. 
Seine Kenntnisse sind recht oberflächlich. Er hält sich für sich, ist reizbar, unter- 
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