Full text: Kurzgefasstes Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie für Mediziner und Juristen

Dämmerzustände. 157 
Wohlhabender Rentner, der von Jugend auf Epileptiker ist, reist plötzlich 
von Hause fort, wird festgenommen, weil'er durch Ausstreuen von Geld einen Strassen- 
auflauf verursacht. Gibt keine rechte Auskunft über seine Personalien, weiss nicht, 
in weleher Stadt er sich befindet, wie er hergekommen. Macht traumhaft benommenen 
Eindruck, starrt gleichgültig vor sich hin, spricht leise, verwaschen, zeigt Schüttel- 
bewegungen des Unterkiefers, Gegenstände kann er nur teilweise bezeichnen, sagt 
z. B. zu Schere: „Schneiden, schneiden; hab schon damit zu tun gehabt mit dem 
Sujet.“ Spricht einmal von Zigeunern, die ihn bedrohten. Zeitweilig tritt trieb- 
artige Unruhe auf. Erst nach einer Woche klar und geordnet, hat eine verschwommene 
Erinnerung an schreckliche Erlebnisse, als seien Angehörige umgebracht worden, 
und er habe sich unter Zigeunern auf einer Eisenbahn befunden. 
Die Tatsache, dass im Dämmerzustande mehr noch wie im Delirium 
der Grad der Bewusstseinstrübung beständig schwankt und 
damit auch das Benehmen des Kranken, seine Ansprechbarkeit für äussere 
Reize erheblich wechselt, seime spätere Erinnerungslosigkeit nur eine teil- 
weise ist und manche Nebensächlichkeiten unberührt lässt, diese Tatsache 
erschwert dem Laien das Verständnis für eine solche Form des Irreseins 
und gestaltet die Zeugenaussagen noch widersprechender und unzuver- 
lässiger, als bei anderen psychischen Krankheitsbildern. 
Die klinische Erfahrung aber lehrt, dass für den geübten Beobachter 
das Verhalten im Dämmerzustande sich durchaus nicht 
ganz unauffällig abzuspielen pflegt, nur werden die charakte- 
ristischen Erscheinungen von Laien in der Regel übersehen. Immerhin 
berichten manche Zeugen über stieren Blick, lıllende oder schleichende 
Sprache, klanglose Stimme, verständnislose Wiederholung von Fragen, 
unvermittelte Äusserungen oft unsinnigster Art. Wichtig sind alle 
Schreibereien aus der kritischen Zeit, da sie bisweilen durch Form 
und Inhalt auf die Schwere der Bewusstseinsstörung ein bezeichnendes 
Licht werfen: Auslassungen von Buchstaben und Worten, merkwürdige 
Wortbildungen, unverständliches Gekritzel. ) 
Immer suche man sämtliche in Betracht kommenden Augenzeugen 
über die von ihnen gemachten Beobachtungen eingehend auszufragen, 
berücksichtige die Art der Tat, das Benehmen des Täters vorher und 
nachher, seine eigene, ausführliche Darstellung der Tagesereignisse, 
soweit seine Erinnerung reicht. Die Tiefe der angeblichen Amnesie, 
ihre Begrenzung nach beiden Seiten hin, die Unmöglichkeit, den Täter 
durch Kreuzfragen mit seinen früheren Behauptungen in Widerspruch 
zu bringen, geben wertvolles Material zur Beurteilung des Falles. Natür- 
lich ist es von gewisser Bedeutung, ob die betreffende Tat dem ganzen 
Charakter des Täters in gesunden Tagen schroff widerspricht, oder bei 
einem solchen Menschen auch ohne den Eintritt einer Geistesstörung 
hätte erwartet werden können. Doch sollte diese Überlegung nie den 
Ausschlag geben. Nicht. unerwähnt darf schliesslich bleiben, dass erste 
Aussagen sogleich nach der Tat womöglich noch im Dämmerzustande
	        
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