Full text: Kurzgefasstes Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie für Mediziner und Juristen

Lea Schwachsinn. 
2 Taschenmesser, deren Klingen mit Blut befleckt waren. Auf dem Küchenstein 
stand ein Gefäss mit blutigem Wasser, in welchem sich der Ehemann D. wahrschein- 
lich nach der Tat die Hände gewaschen hatte. Bis dahin hatten die Gatten immer 
einig gelebt. 
Feststellungen ergaben, dass der 79jährige D. schon länger kindisch gewesen 
war, reizbar und jähzornig. Wiederholt schon hatte er sich nachts angezogen und 
ausgehen wollen. Er meinte dann auf Befragen, es warteten Fuhrleute draussen, 
die Äpfel müssten geladen werden u, dergl. Seit Jahren konnte er seinem Berufe 
wegen Gedächtnisschwäche nicht mehr nachgehen. Auf der Strasse fand er sich 
olıne Führung nicht mehr zurecht. Öfters sprach er irre und erkannte seine Ange- 
hörigen nicht. 
Bei der Vernehmung sass er stumpf da, ohne sich um seine Umgebung zu 
kümmern, wusste weder Datum noch Alter. Die Tat hatte er vergessen, behauptete, 
seine Frau liege krank im Stift. Wegen der augenscheinlich vorhandenen tiefen Ver. 
hblödung wurde er ausser Verfolgung gesetzt. 
Eigene Beobachtung. 
Der fast 80jährige Mann sieht körperlich schwer greisenhaft aus. Der Kopf 
ist ganz kahl, die Haut runzelig und faltig. Die Haltung ist gebückt, die Muskulatur 
fast völlig geschwunden. Er hört und sieht schlecht, zittert stark. Alle fühlbaren 
Schlagadern sind stark geschlängelt und liegen als Rohre frei; das Fettpolster ist 
gänzlich geschwunden. Alle Organe befinden sich im Zustande des Altersschwundes, 
Am geistigen Verhalten des D. fällt vor allem das gänzliche Versagen der 
Auffassung und Regsamkeit auf. Er zeigt in seinen Mienen gänzliche Apathie und 
kümmert sich um nichts, was um ihn vorgeht, fragt nach nichts, sitzt immer stumpf 
auf einer Stelle. Auf Befragen antwortet er wohl, verrät nun aber völlige Unorientiert- 
heit für Ort und Zeit; die Merkfähigkeit ist annähernd aufgehoben. Er hat keine 
Ahnung von der Zeitrechnung mehr, glaubt, hier im Stifte zu sein, heute von Hause 
weggegangen zu sein u, dergl. Er erzählt ganze Geschichten, die er erlebt haben 
will und die nur phantastische Augenblickseinfälle darstellen. Er kennt niemanden 
in seiner Umgebung, auch nicht den Pfleger, der täglich mit ihm zu tun hat. Bis- 
weilen meint er, seine Mutter und sein Vater lebten noch, er habe die Gärtnerei 
und die Frau sei auf den Markt gegangen, um Ware zu verkaufen, 
Früher erworbene Gedächtnistatsachen sind noch erhalten. Die Urteilsfähig- 
keit aber hat stark gelitten. Selbst einfache Zahlenverhältnisse sind ihm vollkommen 
entfallen. Auf die Frage, wieviel Pfennige die Mark hat, antwortet er: „Das habe 
ich noch nicht ausgerechnet.“ 3 Markstücke zählt er zusammen, aber als er weitere 
5 Markstücke zuzählen soll, versagt er schon. Nachts ist er meist schlaflos, wird 
unruhig und sucht umher. 
Gutachten. 
Es besteht seit Jahren bei D. eine geistige Schwäche, die sich auf dem Boden 
des Altersschwundes des Gehirns entwickelt und im letzten Jahre einen sehr hohen 
Grad erreicht hat. Zurzeit zeigt sich schwerste Verblödung mit Verlust von Auf- 
fassungsfähigkeit, Merkfähigkeit, Urteil und mit allgemeiner Stumpfheit. 
Neben dieser weitgehenden Geistesschwäche und auf ihrem Boden ist eine 
Neigung zu triebhaften Handlungen entstanden, die sich besonders in zweckloser 
nächtlicher Unruhe mit rastlosem Umherkramen äussert, aber auch in komplizierteren 
Handlungen, die im Augenblicke auftauchenden Erinnerungsfälschungen entspringen. 
So darf vielleicht auch der unbegreifliche Mord als Ausfluss eines plötzlichen Angst- 
zustandes, als eine Art Abwehr zu erklären sein infolge deliriöser Erlebnisse. 
Jedenfalls gehen die vorhandenen Erscheinungen über den Grad einer ein- 
fachen Geistesschwäche weit hinaus. D. ist überhaupt nicht mehr geschäftsfähig. 
Dieser Zustand ist als ein dauernder anzuseben. 
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