Full text: Kurzgefasstes Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie für Mediziner und Juristen

Dementia paralytica. 
Dementia paralytica. 
Die neuere Forschung hat sichergestellt, dass es sich bei diesem 
verbreitetsten und forensisch wichtigsten organischen Gehirnleiden, der 
sogenannten Gehirnerweichung oder dem Lähmungsblödsinn, um eine be- 
sonders schwere Spätform der Syphilis handelt, welche unserer Behand- 
lung nicht mehr zugänglich ist. Demgemäss haben wir stets nach einer 
früher (vor 6—15 Jahren) überstandenen syphilitischen Ansteckung zu 
fahnden und können diese, wenn nicht durch die Vorgeschichte, doch fast 
stets durch die Wassermannreaktion des Blutes nachweisen. Alle sonst 
angeschuldigten Schädlichkeiten spielen höchstens als Hilfsursachen eine 
zweifelhafte Rolle. Praktisch bedeutungsvoll kann unter Umständen die 
Tatsache werden, dass bei dieser einzigen Geisteskrankheit noch nach 
dem Tode durch die charakteristischen histologischen Präparate und 
das Vorhandensein von Syphiliserregern (Spirochäten) im Gehirn die Dia- 
gnose gestellt zu werden vermag. (Beispiel 26, Seite 182.) 
Die Paralyse tritt in jedem Lebensalter auf, bei Kindern infolge 
Vererbung der Syphilis (vgl. S. 91). Am häufigsten ist naturgemäss die 
Erkrankung im 4. und 5. Lebensjahrzehnt, bei Männern verbreiteter als 
unter Frauen, in der Stadt mehr als auf dem Lande; einzelne Berufe 
wie Kellner sind besonders betroffen. 
Dem eigentlichen Ausbruch des Leidens geht in der Regel ein 
längeres nervöses Vorstadium voraus mit Klagen über Kopfweh und 
Schlaflosigkeit, mit Reizbarkeit, Zerstreutheit, hypochondrischen Empfin- 
dungen, depressiver Verstimmung. Man mache es sich daher als Gut- 
achter zur Pflicht, in jedem Falle anscheinender Neurasthenie nach über- 
standener Lues zu forschen und auf Paralyse zu untersuchen! Mit der 
Zeit melden sich einzelne mehr flüchtige organische Krankheitszeichen 
wie Augenmuskelstörungen, Aphasie, Neuralgien, Schwindel- und epi- 
leptiforme Krampfanfälle, Hemianopsie, motorische Lähmungen, Blasen- 
und Mastdarmschwäche. Auch die später bei voller Ausbildung be- 
weisenden körperlichen Merkmale können da schon leicht angedeutet sein: 
Ungleichheit und unausgiebige oder verlangsamte Lichtreaktion der 
Pupillen, geringe Erschwerung der Sprache mit einzelnen Mitbewegungen 
im Gesicht, Ungleichheit der Gesichtsinnervation, Abblassung der Papille 
im Augenhintergrund, Abschwächung oder Ungleichheit der Patellar- 
reflexe. Vor allem wird das Ergebnis der Lumbalpunktion ausschlag- 
gebend werden. (S. 98.) 
In den meisten zur Begutachtung gelangenden Fällen sind bereits 
einwandfreie körperliche Zeichen vorhanden: Reflektorische 
Pupillenstarre, artikulatorische Sprachstörung und ent- 
sprechende Schriftbehinderung (Seite 98), Verlust oder hochgradige 
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